Inter­view – Ste­fan Koth: „Arbeits­me­di­zin ist viel­fäl­ti­ger geworden“

10.10.2015 | Arbeitsmedizin, Medizin

Eine beson­dere Her­aus­for­de­rung der Arbeits­me­di­zin liegt u.a. auch in der Über­al­te­rung der Gesell­schaft und den damit ver­bun­den Über­le­gun­gen, Men­schen län­ger im Arbeits­pro­zess zu hal­ten. Wie das gelin­gen kann, erläu­tert der Geschäfts­füh­rer der Öster­rei­chi­schen Aka­de­mie für Arbeits­me­di­zin und Prä­ven­tion, Ste­fan Koth, im Gespräch mit Verena Ulrich.

ÖÄZ: Inwie­fern haben sich die Auf­ga­ben der Arbeits­me­di­zin in den letz­ten Jah­ren geän­dert?
Koth: Die Auf­ga­ben der Arbeits­me­di­zi­ner sind mit Sicher­heit viel­fäl­ti­ger gewor­den. Das bringt unter ande­rem die Zunahme psy­chi­scher Belas­tun­gen am Arbeits­platz mit sich. Inzwi­schen sind psy­chi­sche Erkran­kun­gen der Grund für jede dritte Früh­pen­sio­nie­rung. Damit lie­gen sie noch knapp hin­ter den Erkran­kun­gen des Stütz- und Bewe­gungs­ap­pa­rats, haben aber die Erkran­kun­gen des Herz-Kreis­lauf­sys­tems als Früh­pen­sio­nie­rungs­grund schon weit über­holt und sind dabei, die Spitze zu erobern.

Woran liegt es, dass die psy­chi­sche Bean­spru­chung im Berufs­le­ben mas­siv zuge­nom­men hat?
Zum einen wird die Zeit immer schnell­le­bi­ger. Die neuen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­dien ver­lei­ten zur stän­di­gen Erreich­bar­keit, was zu einer zuneh­men­den Dyna­mi­sie­rung der Arbeits­zei­ten führt. Aber auch die Tat­sa­che, dass in man­chen Berei­chen immer mehr Arbeit von immer weni­ger Men­schen erbracht wer­den muss, trägt zu psy­chi­schen Belas­tun­gen bei. Aller­dings liegt die zah­len­mä­ßige Zunahme der psy­chi­schen Erkran­kun­gen ver­mut­lich auch daran, dass es heute ein­fa­cher gewor­den ist, über psy­chi­sche Pro­bleme zu reden. Hin­ter so man­chem Kreuz- und Kopf­weh haben sich auch frü­her psy­chi­sche Beschwer­den ver­bor­gen. Vor allem durch die Dia­gnose ‚Burn-out‘ wur­den psy­chi­sche Erkran­kun­gen im Arbeits­um­feld enttabuisiert.

Was bedeu­tet der demo­gra­phi­sche Wan­del, ins­be­son­dere die Über­al­te­rung der Gesell­schaft, für die Arbeits­me­di­zin?
Die poli­ti­schen Bestre­bun­gen, das fak­ti­sche Pen­si­ons­an­tritts­al­ter anzu­he­ben, ist auch für die Arbeits­me­di­zin eine große Her­aus­for­de­rung. Men­schen sol­len in Zukunft viel län­ger als heute im Arbeits­pro­zess blei­ben. Das höhere Alter bringt aller­dings mit sich, dass die sta­tis­ti­sche Wahr­schein­lich­keit steigt, nicht mehr ganz gesund zu sein. Die Auf­gabe der Arbeits­me­di­zin ist es, Arbeit­neh­mer im Arbeits­pro­zess zu hal­ten und Unter­neh­men zu bera­ten, wie die Arbeit gestal­tet wer­den muss bezie­hungs­weise wel­che Tätig­kei­ten jemand mit spe­zi­fi­schen Ein­schrän­kun­gen noch gefähr­dungs­frei erfül­len kann. Das ist eine Auf­gabe, für die Arbeits­me­di­zi­ner prä­de­sti­niert sind: nur der Arbeits­me­di­zi­ner kennt sowohl den Men­schen mit sei­nen indi­vi­du­el­len Vor­aus­set­zun­gen als auch den Arbeits­platz und die Arbeits­auf­gabe, die diese Per­son erfül­len soll.

Wel­che Bedeu­tung haben prä­ven­tive Maß­nah­men zur Gesund­heits­för­de­rung?
Sys­te­mi­sche Gesund­heits­för­de­rung gewinnt mas­siv an Bedeu­tung. Um lang­fris­tig und nach­hal­tig Erfolge zu erzie­len, muss sie bereits in jun­gen Jah­ren anset­zen. Es gibt zwar bereits eine Menge an ein­zel­nen Initia­ti­ven, aber was oft noch fehlt, ist eine Gesamt­sicht der betrieb­li­chen Gesund­heits­för­de­rung, die beim Sys­tem Unter­neh­men ansetzt. Vie­les, was sich nega­tiv auf die Gesund­heit aus­wirkt, ent­steht aus der Arbeits­or­ga­ni­sa­tion bezie­hungs­weise den Arbeits­pro­zes­sen her­aus. Man muss in Zukunft die Gesund­heits­för­de­rung als ganz­heit­li­ches Gesund­heits­ma­nage­ment posi­tio­nie­ren, das alle Aspekte der Gesund­heit am Arbeits­platz ein­be­zieht und berücksichtigt.

Wel­che wei­te­ren Maß­nah­men wer­den gesetzt, um Men­schen län­ger im Arbeits­pro­zess zu hal­ten?
Das Wie­der­ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment hat in die­sem Zusam­men­hang an Bedeu­tung gewon­nen. Das bedeu­tet, dass Per­so­nen nach einer län­ge­ren krank­heits­be­ding­ten Abwe­sen­heit wie zum Bei­spiel nach einer Krebs­er­kran­kung oder nach einem Burn-out wie­der in den Arbeits­pro­zess zurück­ge­führt wer­den. Diese Auf­gabe ist für die Arbeits­me­di­zin eher neu, da es frü­her die Regel war, dass Arbeit­neh­mer sich nach län­ge­rer Krank­heit in die Früh­pen­sion ver­ab­schie­den oder ver­ab­schie­det wur­den. Jetzt wächst bei den Unter­neh­men glück­li­cher­weise zuneh­mend das Bewusst­sein, dass mit jedem Arbeit­neh­mer auch beträcht­li­ches Human­ka­pi­tal ver­lo­ren geht.

Wel­che Rah­men­be­din­gun­gen haben sich außer­dem ver­än­dert?

Die zuneh­mende Diver­si­tät der Gesell­schaft bringt mit sich, dass Arbeit­neh­mer mit unter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den vom Arbeits­me­di­zi­ner betreut wer­den. Es ent­ste­hen dadurch Situa­tio­nen, für die es kein all­ge­mein gül­ti­ges Rezept gibt, son­dern die sehr viel Ein­füh­lungs­ver­mö­gen des Arbeits­me­di­zi­ners ver­lan­gen. Ein Bei­spiel sind Unter­su­chun­gen von weib­li­chen Pati­en­ten aus dem mus­li­mi­schen Kulturkreis.

Wie begeg­net die Öster­rei­chi­sche Aka­de­mie für Arbeits­me­di­zin und Prä­ven­tion die­sen vie­len neuen Her­aus­for­de­run­gen?
Unser Ziel ist es, für alle diese geän­der­ten Bedin­gun­gen und Auf­ga­ben das geeig­nete Aus­bil­dungs­an­ge­bot bereit­zu­stel­len. Für das ganz­heit­li­che Gesund­heits­ma­nage­ment bie­ten wir den Mas­ter-Lehr­gang Orga­ni­sa­ti­ons­me­di­zin an. Die­ser dient dazu, den Arbeits­me­di­zi­nern das nötige inter­dis­zi­pli­näre Know­how aus Wirt­schaft, Recht, Psy­cho­lo­gie und Sozio­lo­gie zu ver­mit­teln – Wis­sen, das sie brau­chen, um sich erfolg­reich in Manage­men­tent­schei­dun­gen ein­brin­gen zu kön­nen. Einen Lehr­gang zum Wie­der­ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment bie­ten wir eben­falls an. Auch zur Eva­lu­ie­rung psy­chi­scher Belas­tun­gen gibt es an der Aka­de­mie lau­fend Fortbildungen.

Wel­che per­sön­li­chen Ziele haben Sie als Geschäfts­füh­rer der Aka­de­mie?
Die Aka­de­mie ist seit 30 Jah­ren als Markt­füh­rer sehr erfolg­reich. Wir haben in die­sem Zeit­raum mehr als 2.000 öster­rei­chi­sche Arbeits­me­di­zi­ner aus­ge­bil­det. Mein Ziel ist es, unse­ren qua­li­ta­ti­ven Füh­rungs­an­spruch in der Arbeits­me­di­zi­ner-Aus­bil­dung in den nächs­ten Jah­ren wei­ter aus­zu­bauen. Ich habe mir unter ande­rem vor­ge­nom­men, das ohne­hin schon sehr umfang­rei­che Netz­werk an Exper­ten zu erwei­tern und im kom­men­den Jahr die Lern­un­ter­la­gen für die Arbeits­me­di­zin-Aus­bil­dung einer gründ­li­chen Über­ar­bei­tung und Multi-Media­li­sie­rung zu unterziehen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2015