Inter­view – Michael Mus­a­lek: Orpheus­pro­gramm gegen die Sucht

25.06.2015 | Medizin

Der ziel­ori­en­tierte Dia­log ist eines der zen­tra­len Ele­mente des Orpheus­pro­gramms für Sucht­kranke. Der Pati­ent bekommt bei dem am Anton-Proksch-Insti­tut in Wien Kalks­burg ent­wi­ckel­ten Pro­gramm die Mög­lich­keit, andere Dinge als das Sucht­mit­tel zu ent­de­cken, die attrak­tiv und wich­tig für ihn sind, wie der ärzt­li­che Direk­tor Univ. Prof. Michael Mus­a­lek im Gespräch mit Verena Ulrich erklärt.

ÖAZ: Wofür steht das Orpheus­pro­gramm? Wel­ches The­ra­pie­ziel wird mit die­sem Kon­zept ver­folgt?
Mus­a­lek: Das Orpheus­pro­gramm des Anton-Proksch-Insti­tuts soll zur Neu- und Wie­der­ent­de­ckung der eige­nen Lebens­kräfte bei­tra­gen. Es umfasst ver­schie­dene Module, die vom phi­lo­so­phi­schen Café über Krea­tiv-Werk­stät­ten bis hin zur Anlei­tung zur akti­ven Lebens­neu­ge­stal­tung rei­chen. So trägt das Pro­gramm zur Stär­kung der indi­vi­du­el­len Res­sour­cen der Pati­en­ten bei. Das The­ra­pie­ziel ist ein auto­no­mes und mög­lichst freud­vol­les Leben – ohne Abhän­gig­keit vom Suchtmittel.

Was unter­schei­det das Orpheus­pro­gramm von her­kömm­li­chen Ergo­the­ra­pien, die in der Sucht­the­ra­pie schon lange Anwen­dung fin­den?
Das Prin­zip bis­he­ri­ger Behand­lungs­stra­te­gien war, dem Pati­en­ten das Sucht­mit­tel zu neh­men und die ent­stan­dene Lücke durch the­ra­peu­ti­sche Ange­bote zu fül­len. Das Orpheus­pro­gramm geht von einem ande­ren Denk­kon­zept aus. Ziel ist nicht eine ‚Beschäf­ti­gungs­the­ra­pie‘ des Pati­en­ten und auch nicht, durch Akti­vi­tä­ten eine Lücke zu fül­len. Der Pati­ent bekommt im Rah­men des Orpheus­pro­gramms die Mög­lich­keit, andere Dinge als das Sucht­mit­tel zu ent­de­cken, die attrak­tiv und wich­tig für ihn sind. Der Ver­füh­rungs­kunst des Sucht­mit­tels wird etwas ent­ge­gen­ge­setzt, das grö­ßer ist als alle ratio­na­len Argu­mente und guten Vor­sätze: näm­lich das Leben selbst und die Lust, an die­sem aktiv teil­zu­ha­ben. Die neu ent­deck­ten Prio­ri­tä­ten sol­len ein schö­nes und freud­vol­les Leben ermög­li­chen und haben nichts mit Leis­tung und Durch­hal­ten zu tun. Denn das Schöne kann nicht nur eine Zier­leiste des Lebens sein, son­dern es ist eine mas­sive Kraft­quelle, durch die wir ungleich leis­tungs­fä­hi­ger werden.

Wie funk­tio­niert das Fin­den von neuen Prio­ri­tä­ten in der Pra­xis?
In der Pra­xis ste­hen wir vor der Her­aus­for­de­rung, dass man das Schöne nicht ein­fach ver­schrei­ben kann. Was für schön befun­den wird, ist höchst indi­vi­du­ell. Wir lösen das Pro­blem, indem wir durch die unter­schied­li­chen Module Spiel­räume schaf­fen, in denen jeder Ein­zelne das für ihn Schöne fin­den, ent­wi­ckeln und ent­fal­ten kann. Wel­che Module für den Pati­en­ten pas­send sind, wird in einem soge­nann­ten ziel­ori­en­tier­ten Dia­log her­aus­ge­ar­bei­tet. Das ist eine Gesprächs­form, die wir hier am Anton-Proksch-Insti­tut ent­wi­ckelt haben. Es han­delt sich um einen Dia­log auf Augen­höhe, in dem auch Ziele ver­ein­bart wer­den, die für The­ra­peut und Pati­ent gang­bar sind.

Kön­nen Sie schon etwas zu den Erfolgs­quo­ten des Pro­gramms sagen?
Das Pro­gramm wird lau­fend eva­lu­iert. Was wir bereits sagen kön­nen ist, dass es zu deut­li­chen Wert­ver­än­de­run­gen bei den Pati­en­ten kommt. Die Freude am eige­nen Leben und die Zufrie­den­heit neh­men deut­lich zu. Lang­zeit­stu­dien dar­über, wie sich das Pro­gramm lang­fris­tig auf das Trink­ver­hal­ten aus­wirkt, haben wir noch keine. Die posi­tive Reso­nanz von Betrof­fe­nen auf das Orpheus­pro­gramm gibt jedoch allen Anlass dazu, dem Modell ein gro­ßes Poten­tial zur erfolg­rei­chen Sucht­be­hand­lung ein­zu­räu­men und die Hei­lungs­pro­gno­sen sucht­kran­ker Men­schen nach­hal­tig zu verbessern.

Lässt sich das Pro­gramm auch auf andere Pati­en­ten­grup­pen aus­wei­ten oder wurde es aus­schließ­lich für Sucht­kranke kon­zi­piert?
Da es sich beim Orpheus­pro­gramm um ein Lebens­neu­ge­stal­tungs- Pro­gramm han­delt, ist es selbst­ver­ständ­lich auch für andere Pati­en­ten­grup­pen anwend­bar, für die ihr bis­he­ri­ger Lebens­stil gesund­heits­schä­di­gend oder schlicht nicht mehr mög­lich ist. Am Anton-Proksch-Insti­tut wer­den bereits Burn out-Pati­en­ten mit dem The­ra­pie­kon­zept behan­delt. Eine Aus­wei­tung auf ger­ia­tri­sche Pati­en­ten wäre ebenso durch­aus denk­bar. Wir wis­sen ja bereits, dass beim älte­ren Pati­en­ten mit Res­sour­cen-ori­en­tier­ten The­ra­pie­for­men beacht­li­che Erfolge erzielt werden.

Woher kommt der Name für das Pro­gramm?
Der Name geht auf die Figur des Orpheus aus der grie­chi­schen Mytho­lo­gie zurück. Orpheus wid­mete sich dem Spiel auf der Leier und dem Gesang. Es heißt, er sang so schön, dass sich die Bäume zu ihm neig­ten. Als er die Argo­nau­ten bei ihren See­fahr­ten beglei­tete, stimmte er dank sei­ner Gabe das wilde Meer gnä­dig und bezwang sogar die Sire­nen, die durch ihren süßen und ver­füh­re­ri­schen Gesang den vor­bei­fah­ren­den Schif­fern Schön­heit und Genuss ver­spra­chen, jedoch Tod und Ver­der­ben brach­ten. In Anleh­nung an den Mythos von Orpheus über­tönt auch das Orpheus­pro­gramm die Lock­rufe eines Sucht­mit­tels, indem es die innere Stimme und die inne­woh­nen­den Kräfte des Pati­en­ten stärkt und die­sen dabei unter­stützt, Erfül­lung, Glück und Genuss­fä­hig­keit aus sich selbst her­aus zu ent­wi­ckeln. Der Sucht­kranke lernt, posi­tive Gefühle, gute Stim­mung und Zufrie­den­heit selbst zu erzeu­gen, ohne dabei auf äußere Sti­mu­lan­tien ange­wie­sen zu sein.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 12 /​25.06.2015