Impfungen: Die Epidemie Impfskepsis

25.11.2015 | Medizin


Überlastung des Immunsystems, Veränderung der Erbsubstanz, immunologischer Schock, Autismus oder neue Allergien – die Argumente von „Impfgegnern“ sind vielfältig. Laut Experten halten sie jedoch einer genauen Betrachtung nicht Stand.
Von Ira G. Federspiel

Warum steigt die Anzahl der Menschen, die sich dazu entschließen, sich oder auch ihre Kinder nicht impfen zu lassen, ständig? Da viele von ihnen gefährliche Infektionskrankheiten nie durchgemacht haben, fehlt oft das Wissen um die tatsächliche Gefahr. Dazu kommt die durch Impfgegner mit falschen Behauptungen geschürte Angst. Diese Skepsis hat dazu geführt, dass beispielsweise die Zahl der Masernfälle steigt: Die bis Herbst 2015 gezählten mehr als 300 Fälle sind fast ein Dreifaches der 2014 registrierten Masernerkrankungen – trotz der groß angelegten Kampagne des Gesundheitsministeriums. Wie bei allen Infektionskrankheiten kommt es auch bei Masern zu einem „wellenartigen Auftreten“. „Es kommt zu einem Masernausbruch, wenn das Virus auf eine entsprechende Anzahl empfänglicher Personen trifft“, beschreibt Priv. Doz. Marie Paulke-Korinek, Leiterin der Abteilung für Impfwesen im Gesundheitsministerium, die Folgen. Hierzulande ist die Masern-Schutzimpfung aufgrund der epidemiologischen Situation mittlerweile auch für Erwachsene gratis.

Die Skepsis gegenüber Impfungen ganz generell ist innerhalb der Bevölkerung groß – „obwohl neue Impfstoffe rigorosen Prüfungen unterzogen werden, bevor sie auf den Markt kommen“, erklärt Univ. Prof. Dipl. Ing. Reingard Grabherr vom Institut für Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur in Wien. Die Immunantwort und die Wirksamkeit des Impfstoffes werden in der ersten Stufe an Kleinsäugern und später an gesunden Menschen getestet. Erst wenn gewährleistet werden kann, dass ein Impfstoff sicher und wirksam ist, kommt er auf den Markt.

Die meisten gängigen Impfungen beinhalten inaktivierte Viren wie etwa die Influenza-Impfung oder bakterielle Erregerbestandteile oder Toxoide. Grabherr: „In befruchteten Hühnerembryos werden diese Viren gezüchtet, nach elf Tagen geerntet und abzentrifugiert und im Anschluss mit Formaldehyd chemisch getötet. Pro Ei entstehen so je zwei Impfdosen, die dann verabreicht werden können. Der Nachteil solcher Totimpfstoffe ist, dass ihnen Hilfsstoffe wie Aluminumhydroxid beigesetzt werden müssen, um die Wirkung des Stoffes erst zu entfalten.“ Außerdem können Reste von Hühnereiweiß bei Allergikern Reaktionen hervorrufen.

Den Influenza-Impfstoffen beispielsweise werden – bis auf den Impfstoff für ältere Personen – keine Adjuvantien beigesetzt. Bei Lebendimpfstoffen wie jenem gegen Gelbfieber werden lebende, attenuierte Viren gespritzt. Lebendimpfungen halten länger; außerdem kommen sie ohne Adjuvantien aus. Dennoch werden solche Impfungen als unangenehmer empfunden, da die lebenden Viren lokal in die Körperzellen eindringen, was für einen Tag oder mehrere Tage zu einem Schwächegefühl führen kann. Deswegen sind solche Impfungen für immunschwache Menschen nicht geeignet.

Angst vor Überlastung des Immunsystems

Auch die Angst vor einer Überlastung des Immunsystems hält immer mehr Eltern davon ab, ihre Kinder impfen zu lassen. Eine unbegründete Angst, wie Grabherr betont. „Das Immunsystem ist sicher nicht überlastet, auch nicht nach einer Sechsfach-Impfung.“ Die Sechsfach-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Hepatitis B und Hämophilus influenzae B enthält nur rund 25 gereinigte Antigene. „Früher hingegen waren nur in einer einzigen Impfung gegen Pertussis mehr als 3.000 Antigene, was auch oft zu Nebenwirkungen geführt hat“, wie Univ. Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin an der Medizinischen Universität Wien, erklärt. „Auch die vielfach gefürchtete Überforderung des Immunsystems kann deshalb nicht passieren, da wir schon von Geburt an mit einer enorm großen Anzahl an Immunzellen ausgestattet sind.“ Durch die Impfung werden diese Immunzellen auf ihre Spezifität geschult – man spricht vom „immunologischen Priming“, so dass die Zellen bei Kontakt mit einem Erreger bereits ihre volle Funktionalität erlernt haben und diesen schnell und effektiv abwehren können. Wiedermann weiter: „Nur bei Personen, deren Immunsystem durch Krankheiten oder immunsuppressive Therapien geschwächt ist, muss beim Impfen vorsichtig und zurückhaltend vorgegangen werden.“

Was mögliche allergische oder toxische Nebenwirkungen von in Impfungen enthaltenen Hilfs- oder Zusatzstoffen betrifft, spielt so wie bei allen Stoffen die Dosis eine „große Rolle“, weiß Wiedermann-Schmidt. Kontraindikationen gegen moderne Impfstoffe seien aber nur in den seltensten Fällen gegeben; in erster Linie handle es sich dabei nur um Menschen mit einem beeinträchtigten Immunsystem, wo den Aussagen der Expertin zufolge „bei bestimmten Impfungen Vorsicht gegeben ist“. So ist beispielsweise Aluminium als Wirkverstärker seit rund 100 Jahren in vielen Impfstoffen enthalten – jedoch in einer so geringen Dosis, dass kein Sicherheitsrisiko gegeben ist. „Gemäß den Vorgaben des Europäischen Arzneibuches darf der Aluminiumgehalt maximal 1,25mg pro Impfdosis betragen“, erklärt Wiedermann-Schmidt. De facto liege er in den verwendeten Impfstoffen bei 0,3 bis 0,8 mg pro Dosis.

Die Ängste hinsichtlich der Toxizität von Aluminium rühren laut Wiedermann-Schmidt von Berichten aus den 1970er Jahren. Damals hatte die übermäßige Zufuhr von Aluminium bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz zu kritischen Konzentrationen über 30 μg/l zum sogenannten Dialyse-Enzephalopathie-Syndrom führen können – das treffe jedoch heute längst nicht mehr zu.

Aluminiumhydroxid wird jedoch auch über die tägliche Nahrung, Wasser oder Deodorants aufgenommen. Die durch die Nahrung aufgenommene Menge ist rund 130 Mal höher als die in einer Impfung enthaltene Menge. Auch bei Nahrungsmitteln gibt es laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit Grenzwerte, die mit 1mg/kg/Woche als tolerable wöchentliche Menge nicht überschritten werden. „Und Deodorants oder Kosmetika sind hinsichtlich des Aluminiumgehalts entsprechend deklariert“, betont Wiedermann-Schmidt.

Eine 1998 im Lancet publizierte Studie wollte im Rahmen einer Untersuchung von zwölf Kindern (ohne Kontrollgruppe) einen Zusammenhang zwischen Autismus und der MMR-Impfung gefunden haben. Paulke dazu: „Die Studie wurde 2010 vom Journal zurückgezogen. Mittlerweile gibt es groß angelegte Studien, die hier keinen Zusammenhang feststellen können. Es wurde belegt, dass die genannte Lancet-Studie vorsätzlich gefälscht wurde. Dennoch halten Impfgegner an diesem Argument fest.“

Zu „Falsch-Behauptungen“ zählen laut Paulke auch die Hygienehypothese sowie die höhere Wahrscheinlichkeit für einen plötzlichen Kindstod nach einer Impfung. „Das Gegenteil ist wahr“, betont die Expertin. Demnach würden Studien belegen, dass die Zahl der Fälle von plötzlichem Kindstod bei guter Durchimpfung geringer ist. „Kinder mit atopischer Immunitätslage benötigen außerdem ganz besonders Impfungen, weil sie eine erhöhte Empfänglichkeit für manche Infektionen haben dürften“, ergänzt Paulke. Impfschäden unterliegen laut §75 Arzneimittelgesetz der ärztlichen Meldepflicht. Auch können Betroffene unerwünschte Nebenwirkungen beim Bundesamt für Sicherheit und Gesundheitswesen selbst melden.

Grundsätzlich sei eine hohe Durchimpfungsrate sehr wichtig, wie die Experten übereinstimmend betonen. Dabei geht es nicht nur darum, sich selbst, sondern auch andere zu schützen – wie das Beispiel des Polio-Ausbruchs 2014 in Syrien und den angrenzenden Ländern verdeutlicht. Ursache: die niedrige lokale Impfrate. Wiedermann-Schmidt: „In einer Zeit, in der es vermehrt Bevölkerungsströme und unvorhergesehene politische Veränderungen gibt, wird die Notwendigkeit einer hohen Durchimpfungsrate in der eigenen Bevölkerung immer größer.“ Den Aussagen der Expertin zufolge seien in den letzten Jahren vor allem die Zahl der Fälle von Masern und Keuchhusten stark angestiegen; Polio sei „nach wie vor ein Thema und auch Meningokokken könnten aus anderen Ländern zu uns kommen“.

Wie beurteilen die Experten verpflichtende Impfungen? Wiedermann-Schmidt ist der Ansicht, dass eine verpflichtende Impfung für gewisse Bereiche „zu überlegen ist“. Und weiter: „Vor allem beim Gesundheitspersonal ist das ein Thema. Denn hier geht es nicht nur um den Individualschutz, sondern um den Schutz der Kranken und vulnerablen Personen, die selbst nicht geimpft werden können.“ Darüber hinaus wäre ein ausreichender Impfschutz als Voraussetzung für den Eintritt in soziale Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Universitäten wie er in Teilen der USA beim Kindergarten- oder Schuleintritt besteht, besonders angesichts der derzeitigen Situation „überlegenswert“, damit es in einem sozialen Umfeld nicht zur Krankheitsausbreitung kommt.

Paulke hingegen ist gegen eine Impfpflicht und für mehr Aufklärung: „Wir setzen auf Aufklärungsmaßnahmen und auf Verständnis dafür, wie wichtig Impfungen sind – zum eigenen Schutz und aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Erfahrungen mit der Impfpflicht in anderen Ländern haben gezeigt: Es muss immer Möglichkeiten geben, einen Impfausschluss zu erlangen wie zum Beispiel aus medizinischen Gründen. Menschen, die nicht geimpft werden wollen wie beispielsweise strikte Impfgegner werden immer einen Weg finden, sich nicht impfen zu lassen.“

Drei Fragen an Univ. Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt

wissenschaftliche Leiterin des Österreichischen Impftages und Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin an der Medizinischen Universität Wien.

Wieso hat man für den Impftag 2016 das Thema „Personalisierte Impfungen“ gewählt?

Es geht dabei um die zentrale Frage, wann universelle Impfprogramme wichtig sind und zielführend zum Einsatz kommen sollen und genauso auch darum, wann das individualisierte Impfen für Personen aus bestimmten Risikogruppen im Vordergrund steht. Ähnlich wie in der Onkologie wird auch beim Impfen die Behandlungsstrategie auf die jeweilige Person und ihre genetischen und immunologischen Veränderungen abgestimmt. Die bisher gültige allgemeine Impfstrategie ‚One shot fits all‘ wird künftig in einer sich demographisch stark verändernden Bevölkerung für bestimmte Risikogruppen nicht mehr anwendbar sein.

Worin sehen Sie ganz generell die größten Herausforderungen auf dem Impfsektor?
Die Vakzinologie steht vor mannigfaltigen Herausforderungen: Zum einen kehren Krankheiten wie etwa Masern zurück – auch aufgrund der geringen Durchimpfungsrate. Gleichzeitig tritt eine Vielzahl von komplexen Erregern auf, die neue Technologien zur Herstellung wirksamer Impfstoffe benötigen. Auch die Tatsache, dass unsere Gesellschaft immer älter wird, kommt zum Tragen. So sind chronische Erkrankungen, bei denen eine immunsuppressive Behandlung erforderlich ist, im Steigen. Das ist mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden und gleichzeitig aber mit einem schlechteren Ansprechen auf Impfungen. Immunologische Vorgänge in verschiedenen Altersgruppen und bei bestimmten Grundkrankheiten müssen ebenso verstärkt in die Forschung miteinbezogen werden wie molekularbiologische Abläufe und genetische Einflüsse.

Welche neuen Technologien kommen hier zum Einsatz?
Wir reden hier von Transcriptomics, Proteomics und reverser Immunologie – diese neuen Technologien müssen vermehrt Anwendung finden. Nur so können wir gezielte Impfkonzepte und verbesserte Impfstoffe für Personen entwickeln, die bestimmten Risikogruppen angehören.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2015