Geriatrischer Notfall: Vorausschauend agieren

25.01.2015 | Medizin

Notfallsituationen beim geriatrischen Patienten kommen selten plötzlich, sondern ergeben sich durch akut auftretende Komplikationen bei bestehenden Erkrankungen. Internationale Schätzungen gehen von einer bis zu 20-prozentigen Zunahme von Notfällen in den nächsten Jahren aus – der Großteil davon werden ältere Patienten sein.
Von Verena Ulrich

Normalerweise sind Notfälle unvorhergesehene und monokausale Ereignisse, die aus der unmittelbaren Situation heraus entstehen und rasches Eingreifen erfordern.

In der Geriatrie jedoch entwickeln sich Notfälle häufig aus einer Vielzahl vorhandener Risikofaktoren und Funktionsstörungen. „Die wesentlichen geriatrischen Notfälle sind Stürze, Synkopen, akute Veränderung der Bewusstseinslage, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit, Atemnot, Exsikkosen und Thoraxschmerzen“, sagt Univ. Prof. Michael Joannidis, Leiter Internistische Intensiv- und Notfallmedizin, Universitätsklinik für Innere Medizin in Innsbruck.

Im Gegensatz zu Notfällen bei jüngeren Patienten ist oft nicht ein einzelner Auslöser festzustellen. Multimorbidität und Polypharmakotherapie verschleiern außerdem vielfach die Symptomatik und erschweren die Diagnose. „Das Leitsymptom ist oft völlig unspezifisch. Die Patienten erleiden beispielsweise einen Herzinfarkt und haben keine Brustschmerzen oder sie haben eine Bewusstseinsveränderung, aber die Erkrankung ist eine Sepsis“, schildert der Experte die Problematik aus der Praxis. Erschwerend kommt hinzu, dass der Notarzt meist keine Informationen zur Krankengeschichte des Patienten hat. „Wenn Patienten in Institutionen wie Heimen einen Notfall erleiden, stehen meistens wichtige Informationen zu deren Krankengeschichte und eine Auflistung der verordnetenn Medikamente zur Verfügung. Wenn die Patienten von zu Hause eingewiesen werden, ist das so gut wie nie der Fall“, so Joannidis.

Bei der Behandlung von geriatrischen Notfallpatienten müssen bei der Prämedikation Multimorbidität, Polypharmakotherapie sowie altersbedingte physiologische Veränderungen berücksichtigt werden. „Generell sollte man mit der Medikamentendosis bei älteren Menschen vorsichtig agieren. Die Nierenfunktion ist oft eingeschränkt. Der Arzt muss davon ausgehen, dass es vermehrt zu Medikamenteninteraktionen kommt und dass das Verteilungsvolumen der Medikamente und auch deren Metabolisierung verändert sind. Oft ist bei älteren Menschen mit einfachen, nichtmedikamentösen Maßnahmen wie Flüssigkeitsgabe schon viel zu erreichen“, weiß Joannidis.

Die Behandlung geriatrischer Notfallpatienten wäre um ein Vielfaches erleichtert, wenn der Notarzt ausreichende Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten zur Verfügung hätte. „Der behandelnde Hausarzt, der den Patienten über Jahre kennt, wäre die Schlüsselfigur, um Patienteninformationen zur Verfügung zu stellen. Das Problem ist, dass der Hausarzt durch ein zentrales Alarmsystem meist nicht mehr in den Notfall involviert wird“, so Univ. Prof. Rudolf Likar von der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Klinikums Klagenfurt am Wörthersee. Laut dem Experten könnten viele Einweisungen in die Klinik vermieden werden, wenn der Hausarzt, der die Probleme des Patienten kennt, zum Notfall gerufen werden würde.

Ein Einweisungsprozess stellt vor allem für ältere Patienten eine hohe Belastung und eventuell sogar einen zusätzlichen Risikofaktor dar und sollte nach Möglichkeit vermieden werden. „Der sogenannte Relokalisationseffekt führt dazu, dass ältere Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt wesentlich verwirrter ins Heim oder nach Hause zurückkehren“, so Likar. Der Arzt muss abwägen, inwieweit der Stress einer Einweisung für den Patienten im Verhältnis zu dem erwarteten Effekt steht. „Der Hausarzt kann auf alle Fälle wichtige Vorarbeit leisten und eine Vorgehensweise definieren, wenn sich der Patient dem Ende des Lebens nähert“, empfiehlt Likar. Viele Patienten werden in der letzten Phase ihres Lebens in ein Krankenhaus eingewiesen, obwohl keine akute Verbesserung möglich ist. „Es ist fraglich, ob das der Wunsch des Patienten oder der Angehörigen ist. Daher muss der behandelnde Arzt mit dem Patienten und den Angehörigen ein offenes Gespräch führen und festlegen, wie weit man gemeinsam in der Therapie noch gehen will“, so Likar. Seine Empfehlung für den Hausarzt: zusammen mit dem Patienten bei einer Erkrankung eine Patientenverfügung für den Notfall zu verfassen. Die demographische Entwicklung zeigt, dass der Bedarf an geriatrischer Notfallversorgung künftig massiv zunehmen wird. „Derzeit machen die über 70-jährigen in der Notfallaufnahme in etwa 20 Prozent aus. Es ist noch kein überwiegender, aber ein substantieller und wachsender Anteil von Patienten“, so Joannidis. International wird die Zunahme an Notfällen in den nächsten Jahren auf 15 bis 20 Prozent geschätzt; der Großteil werden ältere Patienten sein. „Es wird substantielle, strukturelle Veränderungen geben müssen, um den Bedarf decken zu können“, meint Likar. Er weist darauf hin, dass einer Studie zufolge in Pflegeheimen durchschnittlich 1,5 Notfälle pro Tag verzeichnet werden. „Die geriatrische Notfallversorgung in Heimen kann definitiv verbessert werden. Dazu sind derzeit auch schon Projekte in Planung. Viele geriatrische Notfälle könnten verhindert werden, wenn das Pflegepersonal mehr Expertise mit geriatrischen Notfallsituationen hätte“, so Likar. Denn anders als in jungen Jahren können beim älteren Patienten im Vorfeld Risikofaktoren für Notfälle identifiziert und vorausschauend verhindert werden. „Die Rolle des Hausarztes und des Pflegepersonal ist es, Notfälle vorherzusehen, vorausschauend zu agieren und Direktiven für die Notfallsituation festzulegen“, fasstn Likar zusammen.

Bewusstseinsbildung statt Leitlinien

Derzeit gibt es keine spezifischen Leitlinien, die das Vorgehen bei der Notfallbehandlung von betagten Patienten festlegen. „Aufgrund der Komplexität und der Individualität wird es auch nicht ganz einfach, einheitliche Leitlinien zu erstellen“, gibt Joannidis zu bedenken. Jedoch sei seiner Ansicht nach Bewusstseinsbildung bei Ärzten für die Problematik von geriatrischen Patienten zunehmend nötig und wichtig. „Es braucht Mediziner, die sich der Komplexität der Behandlung betagter Patienten bewusst sind. Denn diese ist je nach biologischem Alter und den Begleiterkrankungen unterschiedlich“, ergänzt Joannidis.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2015