Menschen mit Beeinträchtigungen: Behinderung ist nicht gleich Krankheit

10.06.2015 | Medizin

Behinderung ist ein multidimensionaler Begriff, der auf drei Ebenen betrachtet werden muss: auf körperlicher Ebene, auf Ebene der Aktivität und Partizipation sowie unter Einbeziehung der Kontextfaktoren. In Erweiterung des ICD-10 hat die WHO 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ herausgegeben. Von Irene Mlekusch

Der Begriff Behinderung findet sich erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im österreichischen Gesetz. Die in der Behindertenpolitik verwendete Definition von Behinderung ist zum Teil stark medizinisch orientiert und geht zu wenig auf umweltbedingte Faktoren ein. Univ. Prof. Tatjana Paternostro-Sluga, Vorstand des Instituts für Physikalische Medizin und Rehabilitation im Sozialmedizinischen Zentrum Ost Wien, beschreibt die Behinderung als Umbrellabegriff, der die Beeinträchtigung auf körperlicher Ebene, auf Ebene der Aktivität und Partizipation, die Beeinträchtigung im sozialen Umfeld, sowie deren Interaktionen beinhaltet.

Moderne Definitionen von Behinderung betonen das Zusammenspiel und die gegenseitige Beeinflussung von medizinischen und sozialen Faktoren als Ursache einer Behinderung.

„Die Wechselwirkungen zwischen der Erkrankung einer Person mit ihren Bedürfnissen und dem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld können trotz gleicher Erkrankung zu einer unterschiedlichen Ausprägung der Behinderung führen“, sagt Paternostro-Sluga. Demzufolge ist der Begriff der Behinderung von dem der Krankheit abzugrenzen, denn nicht die Erkrankung allein, sondern vielmehr die daraus resultierenden Funktionsstörungen machen eine Behinderung aus. Die WHO unterscheidet somit Schädigung von Beeinträchtigung und Behinderung.

Funktionsstörungen erfassen

In Erweiterung der ICD-10-Klassifikation, die der Kategorisierung von Erkrankungen dient, hat die WHO 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF-Klassifikation) als Katalog der Funktionseinschränkungen herausgegeben. Das Ziel der ICF ist es, die Funktionsstörung, die aus einer Erkrankung resultiert, zu erfassen und zu klassifizieren. „Der ICF liegt ein detailliertes, neutral formuliertes, biopsychosoziales Modell der Gesundheitsstörung zugrunde“, schildert Paternostro-Sluga.

Beeinträchtigung und Funktionsfähigkeit werden als Produkt der Interaktion des Gesundheitszustandes mit externen und internen Kontextfaktoren beschrieben. Externe Kontextfaktoren sind Umweltfaktoren wie Wohnungsregion, finanzieller Background und Gesellschaft; zu den internen Faktoren zählen Geschlecht, Alter, Copingstrategien, sozialer Hintergrund, Erfahrung und Charakter. Paternostro-Sluga fasst zusammen: „Behinderung ist ein multidimensionaler Begriff, der auf drei Ebenen betrachtet werden muss: auf körperlicher Ebene, auf Ebene der Aktivität und der Partizipation sowie unter Einbeziehung der Kontextfaktoren.“ Der Fokus der Behandlung müsse auf die Funktionsstörung als Folge der körperlichen Beeinträchtigung gelegt werden.

Eine Behinderung muss nicht immer dauerhaft sein; eine erfolgreiche Operation oder entsprechende medizinische und pädagogische Rehabilitation kann zu einer Reduktion der Beeinträchtigung in allen Bereichen führen. Paternostro-Sluga verweist in diesem Zusammenhang auf die Mobilisierung von älteren Menschen mit einem Rollator. „Der Einsatz eines Rollators ist heute sowohl bei älteren, in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen, als auch in der Gesellschaft viel besser akzeptiert, macht die Betroffenen wieder mobil und somit selbstständiger“, so die Expertin.

Immobilität kann jeden treffen, zum Beispiel nach einer Gelenksersatz- oder auch einer Schulteroperation. „Erst wenn man selbst zum ersten Mal mit Krücken gehen muss oder verletzungsbedingt eine Hand nicht einsetzen kann, merkt man, wie sehr man dadurch eingeschränkt ist“, so Paternostro-Sluga.

Aus einer Befragung der Statistik Austria aus dem Jahr 2007/2008 geht hervor, dass hochgerechnet etwa 1,7 Millionen Österreicher in Privathaushalten gesundheitlich beeinträchtigt sind; zum damaligen Zeitpunkt entsprach das etwa 20,5 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung. Da schwer beeinträchtigte Personen in Anstalten bei dieser Umfrage nicht mit einbezogen wurden, ist die Gesamtanzahl der schwer behinderten Menschen in Österreich weit höher anzunehmen. Dabei gab beinahe die Hälfte der Befragten über 60-Jährigen eine dauerhafte Beeinträchtigung an. Paternostro-Sluga stimmt mit diesem Ergebnis überein und sieht den Auftrag der Rehabilitation darin, den Beeinträchtigten Selbstständigkeit, Würde und Lebensqualität zu geben.

Am häufigsten wurden Probleme mit der Beweglichkeit genannt, hochgerechnet bei cirka einer Million Menschen in österreichischen Privathaushalten. Überwiegend haben die Betroffenen Beschwerden beim Gehen und Treppensteigen, auch das Heben und Tragen von schweren Taschen sowie das Bücken und Niederknien wurden als problematisch angegeben. 0,6 Prozent der Bevölkerung waren auf die Benützung eines Rollstuhls angewiesen. Vor allem ältere, allein lebende Frauen gaben eine Mehrfachbehinderung an.

Selten isolierte Behinderung

Dieser Umstand entspricht der Tatsache, dass eine isolierte Behinderung eher selten ist, denn Primärbehinderungen ziehen meistens sekundäre Beeinträchtigungen nach sich. „Nach Unfällen oder Operationen können chronische Schmerzsyndrome persistieren, die die Patienten auch nach der Wiederherstellung der Beweglichkeit in der gesamten Lebensführung schwer beeinträchtigen“, erklärt Paternostro-Sluga.

Des Weiteren führen viele chronische Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus, Asthma bronchiale, rheumatoide Arthritis oder Migräne zu dauerhaften Beeinträchtigungen; der Anteil der Betroffenen wird entsprechend den Ergebnissen der Umfrage auf sieben Prozent geschätzt. In weiterer Folge wurden dauerhafte Seh- (3,9 Prozent) und Hörbeeinträchtigungen (2,5 Prozent) aufgezählt sowie nervliche und psychische Probleme mit ebenfalls jeweils 2,5 Prozent. Etwa ein Prozent der Bevölkerung nannte jeweils geistige Probleme und Lernprobleme als dauerhaft beeinträchtigend. Probleme beim Sprechen wurden von 0,8 Prozent der Menschen angegeben.

Schwierigkeiten durch dauerhafte Beeinträchtigungen sahen die Befragten vor allem in der Freizeit. 21,2 Prozent der Personen dieser Gruppe gaben sogar an, in der Freizeit ständig Probleme zu haben. Für die Betroffenen war es schwierig, sich an Spiel-, Freizeit- und Erholungsaktivitäten zu beteiligen, Sport zu betreiben, ein Theater oder Museum zu besuchen, zu reisen oder ein Hobby auszuüben. Ständige Probleme im öffentlichen Verkehr wurden von 16,1 Prozent genannt und 12,6 Prozent der Personen hatten Probleme im Wohnbereich. Weitere ständige Probleme aufgrund einer Beeinträchtigung zeigten sich in der Arbeit, bei der Kommunikation mit anderen, mit der Einstellung anderer Personen gegenüber dem Beeinträchtigten, in der beruflichen Fortbildung sowie generell in der Ausbildung.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2015