Amok: Warum Menschen plötzlich töten

25.09.2015 | Medizin


Die Amokfahrt in Graz, der absichtlich herbeigeführte Absturz eines Passagierflugzeugs der Germanwings – Ereignisse, die für Erschütterung sorgen und Fragen aufwerfen: Was geht in Menschen vor, die zu solch aggressiven Handlungen fähig sind? Wie können Vorfälle wie diese in Zukunft verhindert werden?

Von Verena Ulrich

Antworten auf diese Fragen bleiben oft Spekulation, denn die Psychopathologie des Amoklaufes ist nur begrenzt erfassbar. Der Begriff Amok selbst kommt von dem malaiischen Wort „Amuk“ und bedeutet wütend und rasend. „Amucos“ wurden früher im Fernen Osten Krieger genannt, die den Feind mit blindwütiger Aggression angreifen und töten. Heute wird der Begriff Amok sehr unscharf verwendet. Kennzeichnend ist die Gefährdung mehrerer Menschen, die verletzt oder sogar getötet werden. Eine einheitliche, wissenschaftlich anerkannte Definition gibt es allerdings nicht. „Es ist sehr schwierig, einen Begriff von einer Kultur in eine andere zu transportieren. Nicht jede Tat, die in den Medien als Amok bezeichnet wird, ist tatsächlich ein Amoklauf im engeren Sinn“, erklärt Georg Psota, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Amok beschreibt in erster Linie keine Krankheit, sondern ein Zustandsbild. „Wenn man versucht, den Begriff auf europäischer Ebene zu definieren, müsste man von einem Zustandsbild von impulsiver, eruptiver Gewaltanwendung sprechen.“

Was hinter diesem Zustand der Gewaltbereitschaft steckt, ist unterschiedlich. Aufgrund der vielschichtigen Entstehungsbedingungen von Amokläufen lässt sich kein einheitliches Täterprofil feststellen. Zu den wenigen Gemeinsamkeiten von Amokläufern zählt, dass es sich nahezu ausschließlich um ein männliches Phänomen handelt. „Aus psychiatrischer Sicht ist wichtig zu sagen, dass nicht jeder Amokläufer psychisch krank ist, wie es leider oft in den Medien dargestellt wird“, betont Psota. Ein großer Unterschied hinsichtlich des psychopathologischen Zustands des Täters besteht anscheinend zwischen Taten, die geplant sind und solchen, die aus einem Impuls heraus geschehen. Geplante Taten werden unter Fachleuten auch oftmals nicht als Amok, sondern als Massaker bezeichnet. Univ. Prof. Reinhard Haller, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Krankenhaus Stiftung Maria Ebene unterscheidet wie folgt: „Amokläufe werden in einem Zustand der Raserei, also in einem psychischen Ausnahmezustand, ausgeführt. Bei Massakern bringt jemand bei klarem Verstand und gezielt viele Menschen zu Tode.“ Beim klassischen Amoklauf, der impulsiv ausgeführt wird, befindet sich der Täter in der Regel in einem Dämmerzustand und gilt als nicht zurechnungsfähig. „Dieser Dämmerzustand kann hirnorganisch bedingt sein oder durch eine schizophrene Psychose zustande kommen. Auch pathologische Berauschung durch Drogen oder Alkohol kann die Ursache sein“, erläutert Haller. Klassische Amokläufer sind demnach schon zuvor meist auffällig geworden: „Es sind meistens dissoziale, emotional instabile, impulsive Persönlichkeiten, die psychische Probleme oder psychische Erkrankungen aufweisen“. Täter, die ihre Tat zuvor planen und ihre Opfer gezielt auswählen, sind meist unauffällig, nicht psychisch krank und somit schwerer zu erkennen. Zu ihnen zählen Schul-Amokläufer, sogenannte „School-Shooter“ und wahrscheinlich auch der Pilot der Germanwings-Maschine.

Die Rolle der Medien

Die Erwartung der medialen Aufmerksamkeit kann ein Motiv – wenn auch eher ein Begleitmotiv – grausamer Mehrfachtötungen sein. Diese negative Geltungssucht, die unter Umständen sogar krankhaft sein kann, wird als Herostratismus bezeichnet und wurde vor allem bei Schul-Amokläufern identifiziert. „Oft sind Schul-Amokläufer chronisch gekränkte Persönlichkeiten, die sich nicht akzeptiert fühlen und keine Freunde haben. Daraus entstehen Rachegelüste sowie das Bedürfnis, einmal wichtig zu sein und sich medial groß darstellen zu wollen“, beschreibt Haller.

Häufig beobachtet wird der Einfluss von Medien auf mögliche Folgetaten. Die Berichterstattung in den Medien dürfte Nachahmeffekte auslösen und so erheblich an der Häufigkeit von Amokläufen beteiligt sein. Eine US-amerikanisch/deutsche Studie belegt, dass 44 Prozent der Amokläufe innerhalb von zehn Tagen nach einer in den Medien berichteten derartigen Tat passierten. In der Selbstmord-Forschung sind solche Nachahmungs-Phänomene unter dem Begriff „Werther-Effekt“ bekannt. Dort zeigt sich, dass die Darstellung in Film und Fernsehen von aufsehenerregenden Suiziden gerade bei jungen Menschen zu einer Erhöhung von Selbsttötungen beitragen kann.

Präventive Ansätze sind rar

Fundierte Frühwarnsysteme zur Erkennung von potentiellen Amokläufern gibt es derzeit noch nicht. Der Grund ist vor allem der, dass es keine dafür notwendigen eindeutigen Täterstrukturen gibt. „Jede Tat ist sehr individuell und ein Erklärungsmuster für alle Fälle gibt es nicht. Außerdem ist die statistische Anzahl der Fälle so gering, so dass es schwierig ist, Gemeinsamkeiten zu finden“, weiß Psota. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Vielzahl der Ereignisse mit dem Tod des Täters endet, wodurch eine gründliche Analyse kaum möglich ist.

Zu den wenigen präventiven Ansätzen gehört die Reduktion von möglichen Risikofaktoren. Dazu zählen eine seriöse Berichterstattung und ein verringerter Zugriff auf Schusswaffen. „Leider wird noch sehr wenig dafür getan, Hass präventiv zu untersuchen, um entsprechende Gegenstrategien zu entwickeln. Bei Hass werden die Menschen atavistisch, höchst archaische Urtriebe kommen zum Vorschein und hier wird der Mensch gefährlich“, gibt Psota zu bedenken. Für Haller ist eine gesamtgesellschaftlich verbesserte Empathie der Schlüssel zur Prävention: „Jeder sollte vermehrt darauf achten, ob sich Menschen in seinem Umfeld – in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz – sehr unzufrieden, gekränkt oder benachteiligt fühlen. Ich glaube, dass das der einzige Schutz wäre, den es gibt“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2015