Über­las­tungs­schä­den bei Kin­dern: Zu viel zu früh

10.05.2015 | Medizin

Schon bis zu 50 Pro­zent aller Sport­ver­let­zun­gen bei Kin­dern sind die Folge einer Über­be­an­spru­chung. Oft wird zu früh zu viel gewollt – was die Kin­der moto­risch über­for­dert. Ein Semi­nar bei den dies­jäh­ri­gen Ärz­te­ta­gen in Grado setzt sich mit die­ser The­ma­tik aus­ein­an­der. Von Verena Isak

Kin­der sind die ehr­lichs­ten Pati­en­ten, man muss nur auf sie hören“, sagt Univ. Prof. Anne­lie Wein­berg von der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz und Chef­ärz­tin der Chir­ur­gi­schen Kli­nik III des Mathias-Spi­tals Rheine in Nord­rhein-West­fa­len (Deutsch­land). Unfälle, Sport­ver­let­zun­gen und Über­las­tungs­schä­den ste­hen im Mit­tel­punkt von drei Semi­nar­blö­cken, die die Exper­tin bei den Ärz­te­ta­gen in Grado, die von 31. Mai bis 6. Juni 2015 statt­fin­den, abhält. Wenn also ein Kind etwa beim Fuß­ball­spie­len stürzt und über Schmer­zen klagt, sollte man es zuerst beru­hi­gen und dann auf­for­dern, auf­zu­ste­hen bezie­hungs­weise zu ver­su­chen, auf das Bein auf­zu­tre­ten, was in den meis­ten Fäl­len auch mög­lich ist. Wenn das Kind wirk­lich nicht auf­ste­hen kann, sollte die Ret­tung geru­fen wer­den. Besteht eine Schwel­lung, so ist eine Küh­lung för­der­lich – auch bei rei­nen Distorsionen.

Der Groß­teil der Sport­ver­let­zun­gen pas­siert bei Ball­sport­ar­ten – vor allem beim Fuß­ball – und beim Schi­fah­ren, da dies die belieb­tes­ten und daher die­je­ni­gen Sport­ar­ten sind, die am häu­figs­ten in Öster­reich betrie­ben wer­den. „Fin­ger­ver­let­zun­gen wie zum Bei­spiel unkom­pli­zierte Brü­che, Dis­tor­sio­nen oder Prel­lun­gen kom­men am häu­figs­ten vor“, erläu­tert sie. Gleich danach fol­gen Ver­let­zun­gen der Zehen und des Sprung­ge­lenks. „Wäh­rend bei Erwach­se­nen meist das Außen­band betrof­fen ist, sind es bei Kin­dern eher Frak­tu­ren, vor allem des Außen­knö­chels“, erklärt sie.

Bandrup­tur selten

Durch die Kon­stel­la­tion des kind­li­chen Ske­letts hat der Kno­chen die geringste Resis­tenz, wäh­rend hin­ge­gen die Bän­der von Kin­dern dehn­ba­rer sind als die von Erwach­se­nen, daher ist eine Bandrup­tur sehr sel­ten. „Oft wird unnö­tig ein MRT gemacht, obwohl ein Rönt­gen aus­rei­chen würde“, kon­sta­tiert Wein­berg. Die meis­ten Frak­tu­ren, die bei Sport­un­fäl­len ent­ste­hen, sind unkom­pli­ziert. „In etwa 85 Pro­zent reicht eine kon­ser­va­tive Behand­lung mit Gips aus. Eine Ope­ra­tion ist nur sel­ten not­wen­dig“, sagt Weinberg.

Den Grund dafür, dass Kin­der sich immer häu­fi­ger ver­let­zen, sieht die Exper­tin darin, dass oft zu früh zu viel gewollt wird: „Das Pro­blem ist, dass alle immer höher, immer schnel­ler, immer bes­ser sein wol­len.“ Dabei kommt es zu einem Ungleich­ge­wicht: „Es besteht die Ten­denz, Kin­der zu früh moto­risch zu über­for­dern.“ Als Bei­spiel nennt sie das Rad­fah­ren: „Kin­der ler­nen bereits Rad zu fah­ren, bevor sie Distan­zen über­haupt ein­schät­zen kön­nen. Daher wäre Rad­fah­ren erst mit etwa fünf, sechs Jah­ren sinn­voll.“ Auch beim Rodeln oder mit Bobby Cars sind Kin­der für ihr Alter zu schnell unter­wegs, wodurch das Risiko für Unfälle und Ver­let­zun­gen steigt. Gleich­zei­tig wird oft die Koor­di­na­tion ver­nach­läs­sigt. Bei Sie­ben- bis Zehn­jäh­ri­gen etwa ist die Koor­di­na­tion bes­ser als bei Erwach­se­nen. Des­halb ist die Volks­schul­zeit ideal, um etwa Ball­sport­ar­ten zu erlernen.

Wird Sport aber zu exten­siv betrie­ben, ohne Rück­sicht auf die Bedürf­nisse noch wach­sen­der Kno­chen zu neh­men, kann dies zu Über­las­tungs­schä­den füh­ren. Bereits 30 bis 50 Pro­zent der Sport­ver­let­zun­gen bei Kin­dern wer­den durch Über­be­an­spru­chung ver­ur­sacht. Meis­tens kommt es dazu erst in der Puber­tät, ver­ein­zelt aller­dings schon im Kin­des­al­ter, wenn Hoch­leis­tungs­sport betrie­ben wird. „Über­las­tung bei Kin­dern ent­steht durch repe­ti­ti­ven Stress, was in wei­te­rer Folge zu Kno­chen- und Knor­pel­lä­sio­nen führt“, erklärt Wein­berg. Diese Stress­frak­tu­ren sind schwer zu erken­nen. Hier sollte bei Ver­dacht ein MRT durch­ge­führt wer­den. Beim Ten­nis­spie­len etwa kann es zu einem Streck­de­fi­zit im Arm kom­men, wenn die Deh­nung nicht auf­recht­erhal­ten wer­den kann. Diese Ver­kür­zung kann der Beginn eines Über­las­tungs­scha­dens sein – etwa im Bereich des Epi­con­dylus radia­lis bei Rück­hand­schlä­gen. Auch exo­gene Fak­to­ren wie etwa fal­sche Schuhe oder fal­scher Schlä­ger spie­len eine Rolle. Wird ein sol­cher Ten­nis­ell­bo­gen igno­riert, kann das zu einer Osteo­chon­dri­tis dis­se­cans, einem Mor­bus Pan­ner im Bereich des Capi­tu­lum humeri oder zu einer Radi­us­köpf­chen-Defor­mie­rung führen.

Wenn Pati­en­ten wegen Schmer­zen im betrof­fe­nen Bereich zum Kin­der­arzt kom­men, ist es zunächst wich­tig, zwi­schen einem aku­ten Trauma und ande­ren Ursa­chen zu unter­schei­den. „Gerade bei klei­nen Kin­dern kann es vor­kom­men, dass der Unfall von den Eltern nicht gese­hen wurde“, sagt Wein­berg. In die­sem Fall ist es wich­tig, sich zu über­le­gen, ob der Schmerz für ein Trauma pas­send ist und ob das Kind sons­tige Beschwer­den hat. Wein­berg dazu: „Wenn das Kind gleich­zei­tig Fie­ber und Hüft­schmer­zen hat, lei­det es höchst­wahr­schein­lich an einer Coxi­tis fugax.“ Die­ser soge­nannte Hüft­schnup­fen ist die wich­tigste Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose bei Hüft­schmer­zen und tritt vor allem bei Kin­dern zwi­schen dem vier­ten und zehn­ten Lebens­jahr nach Infek­tio­nen der Atem­wege oder des Gas­tro­in­testi­nal­trakts auf. Hier wei­sen die Schmer­zen kei­nen Zusam­men­hang mit einem Unfall auf.

Hat kein direk­tes Trauma statt­ge­fun­den, kann die Ana­mnese wich­tige Hin­weise auf die Ursa­che der Schmer­zen lie­fern: „Wenn ein Kind oder Jugend­li­cher zum Bei­spiel wegen Schmer­zen im Bereich des Sprung­ge­lenks kommt und vier Mal pro Woche Fuß­ball spielt, sind die Beschwer­den oft­mals an der Achil­les­sehne zu dia­gnos­ti­zie­ren. Dies ist am Ende oft auf einen Wachs­tums­schub zurück­zu­füh­ren. Die Achil­les­sehne kommt in die­sem Fall nicht mit dem Wach­sen nach und ist ver­kürzt, der Mus­kel kann sich schnel­ler adap­tie­ren“, wie die Exper­tin wei­ter aus­führt. Und: „Durch eine gerin­gere Belas­tung bes­sern sich auch die Schmer­zen wie­der.“ Mit Lang­zeit­fol­gen ist nicht zu rech­nen, falls das Trai­ning redu­ziert wird und bei Bedarf Phy­sio­the­ra­pie in Anspruch genom­men wird.

Wich­tig ist jedoch auch immer, die Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen im Hin­ter­kopf zu behal­ten, denn: „Ist der Schmerz Trauma-inad­äquat, sollte man hell­hö­rig wer­den.“ Tumore oder andere Kno­chen­er­kran­kun­gen kön­nen in die­sen Fäl­len die Ursa­che für die Schmer­zen sein. In die­sen Fäl­len ist ein MRT zur wei­te­ren Abklä­rung indiziert.

Ärz­te­tage Grado 2015
Anmel­dung und wei­tere Infor­ma­tio­nen:
www.arztakademie.at/grado

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2015