Men­tal health in den USA: Dra­ma­ti­sche Unterversorgung

10.03.2014 | Politik

Fast 60 Pro­zent der US-Ame­ri­ka­ner mit men­ta­len Pro­ble­men bekom­men nicht die Behand­lung, die sie benö­ti­gen. Beson­ders dra­ma­tisch sind die Defi­zite in der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie. Exper­ten spre­chen von „der größ­ten Gesund­heits­krise, mit der die Nation kon­fron­tiert ist“. Von Nora Schmitt-Sausen

Die USA brauch­ten ein wei­te­res Drama, um wach­ge­rüt­telt zu wer­den. Bei einem Amok­lauf an einer Grund­schule im US-ame­ri­ka­ni­schen Bun­des­staat Con­nec­ti­cut tötete ein ehe­ma­li­ger Schü­ler (20) im ver­gan­ge­nen Win­ter 26 Men­schen, 20 davon waren Kin­der. Der Schütze litt am Asper­ger Syn­drom und hatte mas­sive men­tale Pro­bleme. Seit­dem bewegt sich die Debatte um Män­gel in der Ver­sor­gung psy­chisch Kran­ker. Die Poli­tik zeigt sel­tene Einigkeit.

Pro­fes­sio­nelle Hilfe zu fin­den, ist selbst in Metro­po­len wie Washing­ton DC für Betrof­fene schwie­rig. Zwi­schen 2009 und 2012 wurde im Zuge der Finanz­krise im Dis­trict of Colum­bia fast ein Vier­tel des Bud­gets für die Ver­sor­gung von Men­schen mit men­ta­len Pro­ble­men gekürzt – so wie in mehr als der Hälfte aller USBun­des­staa­ten. Die Folge: In den Emer­gency Rooms der Kran­ken­häu­ser, die für viele Betrof­fene die erste Anlauf­stelle sind, war­ten Pati­en­ten Stun­den oder gar meh­rere Tage, bis die Auf­nahme oder eine adäquate Unter­brin­gung in eine psych­ia­tri­sche Ein­rich­tung mög­lich ist. Selbst schwer Depres­sive oder Sui­zid­ge­fähr­dete kön­nen oft weder akut noch akku­rat ver­sorgt wer­den. Ähn­lich dra­ma­tisch ist die Situa­tion bei der ambu­lan­ten Ver­sor­gung: Die nie­der­ge­las­se­nen Psych­ia­ter sehen sich einem stei­gen­den Pati­en­ten­an­drang gegen­über. Viele The­ra­peu­ten leh­nen es inzwi­schen ab, neue Pati­en­ten auf­zu­neh­men oder Betrof­fene zu behan­deln, die nicht adäquat ver­si­chert sind. „So hart es sein mag, sich ein­zu­ge­ste­hen, dass man men­tale Schwie­rig­kei­ten hat, pro­fes­sio­nelle Unter­stüt­zung zu fin­den, kann sogar noch här­ter sein“, urteilt das Wall Street Jour­nal über die Versorgungslage. 

Gerade ein­mal 40.000 Psych­ia­ter ver­sor­gen in den USA eine Popu­la­tion von mehr als 315 Mil­lio­nen Men­schen. Nach Anga­ben des US-ame­ri­ka­ni­schen Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums leb­ten im ver­gan­ge­nen Jahr fast 91 Mil­lio­nen erwach­sene US-Bür­ger in Gebie­ten, in denen es an pro­fes­sio­nel­ler Betreu­ung man­gelte. In mehr als der Hälfte der 3.100 USame­ri­ka­ni­schen Land­kreise gebe es kei­nen Psych­ia­ter, Psy­cho­lo­gen oder ver­sier­ten Sozi­al­ar­bei­ter. Als Gründe wer­den die schwa­che staat­li­che Finanz­kraft und der Rück­zug von Psych­ia­tern aus ihrer Pro­fes­sion genannt. Die Fol­gen sind gra­vie­rend: Fast 60 Pro­zent der Pati­en­ten mit men­ta­len Pro­ble­men bekom­men nicht die Behand­lung, die sie benötigen.

Beson­ders dras­tisch sind die Defi­zite in der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie. 8.300 Kin­der- und Jugend­psych­ia­ter gibt es in den USA – dem gegen­über ste­hen mehr als 80 Mil­lio­nen Kin­der und Her­an­wach­sende. Bis zu 20 Pro­zent davon haben nach Anga­ben der Ame­ri­can Aca­demy of Child and Ado­le­s­cent Psych­ia­try (AACAP) men­tale Pro­bleme, dar­un­ter eine zuneh­mende Anzahl mit schwe­ren Erkran­kun­gen wie mani­sche Depres­sion, Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit-Syn­drom und Autis­mus. Doch spe­zi­ell in länd­li­chen Regio­nen sei die Ver­sor­gung schwie­rig. Im Bun­des­staat Idaho im Nord­wes­ten der USA kämen auf 100.000 Kin­der und Jugend­li­che keine fünf Psych­ia­ter. Der Lan­des­durch­schnitt liegt bei 12,9 pro 100.000.

Der Blick nach vorne bie­tet aktu­ell wenig Per­spek­tive. Die Ame­ri­can Psych­ia­tric Asso­cia­tion (APA) pro­gnos­ti­ziert, dass bis 2015 lan­des­weit 22.000 Kin­der- und Jugend­psych­ia­ter feh­len wer­den. Ste­ven C. Schloz­man, stell­ver­tre­ten­der Direk­tor für die psych­ia­tri­sche Aus­bil­dung von Medi­zin­stu­den­ten an der Har­vard Medi­cal School, bezeich­nete den Man­gel an Kin­der- und Jugend­psych­ia­tern in The Times Tri­bune als „die größte Gesund­heits­krise, mit der die Nation kon­fron­tiert ist“. Das Arbeits­um­feld für Psych­ia­ter sei in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer schwie­ri­ger gewor­den, an eine Nie­der­las­sung sowie sta­tio­näre Ein­rich­tun­gen seien starre Bedin­gun­gen geknüpft. Auch werde die Zeit, die für die Betreu­ung nötig wäre, im USame­ri­ka­ni­schen Gesund­heits­sys­tem nicht ent­spre­chend hono­riert, wes­halb der Beruf an Attrak­ti­vi­tät verliere. 

Bis­her nur Randthema 

Seit vie­len Jah­ren ist die schlechte Ver­sor­gungs­lage in Exper­ten­krei­sen bekannt, doch in Poli­tik und Gesell­schaft war sie bis­lang nur ein Rand­thema. Erst eine Reihe von dra­ma­ti­schen Amok­läu­fen men­tal kran­ker Schüt­zen kata­pul­tierte das Thema in das öffent­li­che Bewusst­sein; die Schie­ße­rei an der Grund­schule in Con­nec­ti­cut Ende 2012 mar­kierte end­gül­tig einen Wen­de­punkt. Prä­si­dent Barack Obama for­derte als Reak­tion auf den Amok­lauf vehe­ment dazu auf, eine natio­nale Debatte über die Ver­sor­gung von psy­chisch kran­ken US-Bür­gern zu begin­nen. Die Regie­rung brachte im Som­mer des Vor­jah­res eine Home­page auf den Weg (www.mentalhealth.gov), die das öffent­li­che Bewusst­sein für das Pro­blem stär­ken soll. Obama lud zu einer natio­na­len Kon­fe­renz über psy­chi­sche Gesund­heit in das Weiße Haus.

Auch der US-Kon­gress reagierte. Im ver­gan­ge­nen Früh­jahr hat­ten sich Demo­kra­ten und Repu­bli­ka­ner dar­auf ver­stän­digt, Früh­erken­nungs-Pro­gramme an Schu­len zu eta­blie­ren. Außer­dem sollte Geld zur Ver­fü­gung gestellt wer­den, um Leh­rer zu schu­len. Aus­sichts­reich dis­ku­tier­ten die Abge­ord­ne­ten über eine ver­bes­serte psy­cho­lo­gi­sche Ver­sor­gung von Men­schen mit nied­ri­gem Ein­kom­men über staat­lich finan­zierte Gesund­heits­zen­tren. Aller­dings: Die Initia­ti­ven waren in die Debatte um schär­fere Waf­fen­ge­setze ein­ge­wo­ben, legis­la­tive Schritte unmit­tel­bar mit­ein­an­der ver­knüpft. Das Waf­fen­ge­setz schei­terte am Wider­stand der Repu­bli­ka­ner – und damit ver­puffte vor­erst auch die Chance, die Ver­sor­gung für psy­chisch Kranke zu ver­bes­sern. Fach­leute hof­fen auf einen neuen Anlauf in die­sem Jahr. Denn: Es gibt einen über­par­tei­li­chen Kon­sens, dass die Ver­sor­gung ver­bes­sert wer­den muss.

Nach­hal­tige Reak­tio­nen auf die Amok­läufe hat es in vie­len Bun­des­staa­ten gege­ben. US-Medien berich­ten, dass in mehr als einem Dut­zend Bun­des­staa­ten bestehende Gesetze zur men­ta­len Ver­sor­gung über­ar­bei­tet wer­den sol­len oder bereits wur­den. In den Haus­halts­bud­gets wer­den mehr Gel­der für Prä­ven­tion und Behand­lung bereit­ge­stellt. Nevada rief ein Pilot­pro­jekt ins Leben, bei dem Schü­ler von wei­ter­füh­ren­den Schu­len auf ihren men­ta­len Zustand hin unter­sucht wer­den. Texas schult seine Leh­rer an öffent­li­chen Schu­len darin, Auf­fäl­lig­kei­ten bei Schü­lern zu erken­nen. Andere Bun­des­staa­ten haben tele­fo­ni­sche Kri­sen-Hot­lines eta­bliert, schi­cken The­ra­peu­ten an Schu­len und haben Auf­klä­rungs­se­mi­nare für Eltern initiiert.

Bes­se­rung durch „Oba­mac­are“?

Auch die Gesund­heits­re­form von Barack Obama soll einen Bei­trag dazu leis­ten, dass sich die Ver­sor­gungs­lage im Land ver­bes­sert. Die psy­chi­sche Betreu­ung wird garan­tier­ter Bestand­teil der Ver­si­che­rungs­po­li­cen sein, die bis­lang Unver­si­cherte seit Herbst des ver­gan­ge­nen Jah­res erwer­ben kön­nen. Bis zu 6,8 Mil­lio­nen unver­si­cherte US-Ame­ri­ka­ner mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen sol­len durch die Reform Zugang zur Ver­sor­gung fin­den. Außer­dem müs­sen die Ver­si­che­rer men­tale Erkran­kun­gen künf­tig genauso betrach­ten wie andere gesund­heit­li­che Pro­bleme – ein Mei­len­stein. Jahr­zehn­te­lang waren Bemü­hun­gen geschei­tert, die Ver­si­che­rer zu zwin­gen, eine Pari­tät bei der Behand­lung von psy­chi­schen und phy­si­schen Erkran­kun­gen her­zu­stel­len. In der Pra­xis wirkte sich dies so aus, dass sich viele US-Ame­ri­ka­ner den Besuch bei einem Psych­ia­ter schlicht nicht leis­ten konnten.

So posi­tiv diese Aus­wei­tung der Ver­sor­gung ist: Kri­ti­sche Stim­men blei­ben nicht aus. Der Man­gel an Res­sour­cen werde durch die Gesund­heits­re­form noch ver­stärkt, pro­gnos­ti­ziert die Ame­ri­can Psych­ia­tric Association.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2014