Landmedizin: Ein Blick über die Grenzen

25.06.2014 | Politik


In Deutschland und der Schweiz geht man den Landärztemangel proaktiv an: Es gibt finanzielle Unterstützung in vielfacher Hinsicht, erleichterte Modelle der Zusammenarbeit, Anstellung von Ärzten bei Ärzten und ganz generell eine Stärkung des Hausarztes.
Von Agnes M. Mühlgassner

Einfallsreich reagiert man in Deutschland auf den Ärztemangel. „Der ist auch bei uns angekommen“, erklärte Markus Beck kürzlich bei einem Hintergrundgespräch vor Journalisten in Wien. Der niedergelassene Hausarzt ist in einer Einzelpraxis im deutschen Augsburg tätig und Mitglied des Vorstands der Bayerischen Landesärztekammer. Berechnungen zufolge fehlten in Deutschland bis 2020 rund 15.000 Hausärzte, wobei es sich „im Wesentlichen“ um Ärzte auf dem Land handle. Den in Österreich gängigen Begriff „Landmedizin“ gäbe es in Deutschland nicht, wie Beck ausführte. „Es gibt Hausarzt-Medizin und Landärzte. Das sind Ärzte, die auf dem flachen Land arbeiten.“

Von einem Ärztemangel wollen die Krankenkassen hingegen nicht reden. Warum? Beck dazu: „Die Krankenkassen nehmen den Standard Mitte der 1990er Jahre – und sagen, es ist eine Verteilungsproblematik.“ Und so zieht der in Augsburg praktizierende Allgemeinmediziner einige Parallelen zur Situation in Österreich – „es ist überall dasselbe“, wie er sagt: immer weniger Hausärzte; die demographische Entwicklung, die immer mehr ältere, chronisch Kranke erwarten lässt; der medizinische Fortschritt und nicht zuletzt die Art und Weise, wie der Beruf des Allgemeinmediziners gelebt wird. „Die Selbstausbeutung von früher entspricht heute nicht mehr den Arbeits- und Lebensvorstellungen von jungen Kollegen.“

Neue Wege, um diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen, geht man in Deutschland mittlerweile in mehreren Bereichen – beginnend mit gezielten Förderprogrammen bei Medizin-Studenten über Erleichterungen bei der Weiterbildung (entspricht in Österreich der Ausbildung) und Niederlassung im ländlichen Raum bis hin zur Tatsache, dass Quereinsteigerneine Tätigkeit als Allgemeinmediziner ermöglicht wird.

Da gibt es zunächst einmal in Bayern – ähnlich auch in anderen Bundesländern – Förderprogramme für Medizinstudenten, die sich verpflichten, nach der Ausbildung für mindestens fünf Jahre aufs Land zu gehen, ein monatliches Stipendium von 300 Euro – maximal für vier Jahre. Wer sich in einer Gemeinde mit maximal 20.000 Einwohnern niederlässt und sich verpflichtet, dort mindestens fünf Jahre eine Ordination zu betreiben, wird mit bis zu 60.000 Euro gefördert. Wie überhaupt innovative Modelle mit einem maximalen Rahmen von 200.000 Euro mit bis zu maximal 50 Prozent gefördert werden. Unterstützung gibt es auch bei der Ausbildung zum Allgemeinmediziner: Die Ärztekammern haben dafür die Koordinierungsstelle Allgemeinmedizin eingerichtet. Musste man sich bislang alle erforderlichen Weiterbildungsabschnitte (= Ausbildungsabschnitte) selbst organisieren, so hilft die Koordinierungsstelle. Kliniken, niedergelassene Fachärzte für Allgemeinmedizin und andere, zur Weiterbildung befugte Fachärzte, haben sich zu einem regionalen Weiterbildungsverbund zusammengeschlossen. So können Ärzte ihre komplette Weiterbildung zum Hausarzt in einer Region – Rotation durch alle erforderlichen und gewünschten Abschnitte inklusive – absolvieren. Auch Quereinsteiger will man für die Tätigkeit als Hausarzt gewinnen: Seit Oktober 2012 – dem Start des Programms – nutzten bislang vor allem Chirurgen und Anästhesisten die Möglichkeit, mit einer Zusatzausbildung in Allgemeinmedizin sowie psychosomatischer Medizin tätig zu werden. Die bundesweit 60 Quereinsteiger Allgemeinmedizin sind durchschnittlich 52 Jahre alt. Auch der Bereitschaftsdienst wurde neu strukturiert: Die Dienstverpflichtung endet mit 62 Jahren. Ebenso wurden größere Bereitschaftsdienstzonen und Bereitschaftsdienstgruppen gebildet.

Auch auf universitärer Ebene gibt es großen Nachholbedarf: Nur an 20 der bundesweit 37 Fakultäten gibt es Abteilungen für Allgemeinmedizin (in Bayern sind es Erlangen, München, Würzburg). Beim 117. Deutschen Ärztetag etwa hatte Gesundheitsminister Hermann Gröhe erklärt: „… die Allgemeinmedizin soll in der Ausbildung gestärkt werden, indem alle medizinischen Fakultäten einen Lehrstuhl in der Allgemeinmedizin erhalten.“

Volksabstimmung in der Schweiz

In der Schweiz wiederum waren die Hausärzte am 11. Mai dieses Jahres Grund für eine Volksabstimmung. Die Vorgeschichte: 2004 wurde in der Schweiz ein Einzel-Leistungstarif eingeführt, in dem die technischen Leistungen sehr hoch, hausärztliche Leistungen jedoch sehr niedrig bewertet wurden. „Die Hausärzte habe sich dadurch benachteiligt gesehen“, berichtete Remo Osterwalder, Mitglied des Zentralvorstands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum). Er ist als Kardiologe in Delemont, 30 Kilometer südlich von Basel, tätig. Fünf Jahre später, nach einer Zwischenbewertung des Einzelleistungs-Systems, hätten die Hausärzte „genug gehabt“, wie er sagt. Sie sammelten innerhalb von fünf Monaten 200.000 Unterschriften mit dem Ziel, den Beruf des Hausarztes in der Bundes-Verfassung zu verankern. Das Parlament machte – wie dies in einem solchen Fall möglich ist – einen Gegenvorschlag und Zugeständnisse: Es wird von Grundversorgung gesprochen, die Stellung der Hausärzte gestärkt und es gibt 200 Millionen Euro mehr pro Jahr für die Hausärzte. Daraufhin zogen die Hausärzte ihre Initiative zurück; bei der Volksabstimmung im Mai erzielte das Referendum eine „hohe Zustimmung“, so Osterwalder. Seine Kritik: Die Bevölkerung habe jedoch nicht realisiert, dass Apotheker und Pflegefachkräfte einen Antrag zur Grundversorgung gestellt hätten. Schon jetzt dürften Apotheker rezeptpflichtige Medikamente abgeben und auch Impfungen durchführen – „das hat zu großem Aufruhr bei den Ärzten geführt“.

Der Föderalismus in der Schweiz erweist sich als Chance und Hemmnis zugleich – gibt es gleich 26 verschiedene Gesundheitssysteme und Gesetze. Osterwalder dazu: „Der Föderalismus wird bei uns sehr hoch gehalten.“ Und weiter: „Nicht in jedem Kanton können Ärzte Ärzte anstellen. Aber die Kantone, die es erlauben, haben deutlich weniger Probleme, einen Nachfolger zu finden.“ Wie man überhaupt „die Attraktivität des Landarztes“ erhöht habe – etwa bei den Arbeitsbedingungen (die Notfalldienste wurden vereinfacht; Nachtdienst macht ein einziger Arzt für einen ganzen Kanton) und auch bei der Infrastruktur. Aber damit musste auch die Mobilität bei den Patienten erhöht werden: Diese müssen ein Zentrum innerhalb von 30 Minuten erreichen können.

Das Hausarzt-Modell in der Schweiz ist versicherungsabhängig. Die Patienten müssen zuerst zum Hausarzt, dann erst zum Facharzt – wofür der Patient auch einen Bonus erhält. „Der Hausarzt ist der Manager vom Patienten“, zeigt sich Osterwalder sichtlich erfreut. So könnten rund 50 Prozent der Konsultationen, die sonst direkt zum Facharzt gegangen wären, beim Hausarzt erledigt werden, zeige die Erfahrung.

In Lernpraxen – sie entsprechen der Lehrpraxis in Österreich – können Assistenzärzte in Praxen im niedergelassenen Bereich arbeiten. Die Kosten dafür werden zu 40 Prozent von den Kantonen aufgebracht. „Weil im Spital zahlen sie auch 40 Prozent für die Assistenten“, erklärt Osterwalder. Das Modell habe einen „sehr, sehr guten Erfolg“ gehabt. Oder viel mehr einen zu guten: Denn es gab zu viele Bewerber …

Diese besseren Arbeitsbedingungen und Arbeitsmöglichkeiten nehmen mittlerweile 2.600 österreichische Ärzte in Deutschland und 600 Ärzte in der Schweiz wahr. Was es brauche, um die in Österreich genügend vorhandenen Ärzte zu bewegen, hier zu bleiben, hier zu arbeiten? Für ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger liegt die Antwort auf der Hand: „Wir brauchen attraktive Arbeitsbedingungen mit modernen Leistungskatalogen und Wertschätzung.“ Und er kritisiert, dass es in Österreich in vieler Hinsicht Nachholbedarf gibt: Nur an zwei österreichischen Universitäten gibt es einen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin; die Leistungskataloge der Sozialversicherungen in Österreich sind über 50 Jahre alt und besonders in der Allgemeinmedizin bei Weitem nicht an den heutigen Standard angepasst („Das ist Technologie von vorgestern“) und es fehle an Arbeitsbedingungen, wie sie die aktuelle Entwicklung in der Medizin erfordert: einerseits der (stark) steigende Frauenanteil in der Medizin sowie die Vorstellung der Generation Y, deren Lebensmodell ein anderes ist als das früherer Generationen. Ganz klar seien deswegen auch die Forderungen der ÖÄK:

  • Ärztinnen und Ärzte müssen Leistungen, die die Menschen brauchen, erbringen dürfen und hononiert erhalten;
  • Ärzte müssen entlastet werden vom Wochenend-Bereitschaftsdienst und vom Nachtdienst;
  • Einführung der flächendeckenden verpflichtenden und öffentlich finanzierten Lehrpraxis („Heute kann man Allgemeinmediziner werden, ohne einen Tag in einer Allgemeinpraxis tätig gewesen zu sein“);
  • Allgemeinmedizinische Ausbildung im Krankenhaus auf „Facharztniveau“; Abschluss der Ausbildung als Facharzt für Allgemeinmedizin nach Absolvierung der verpflichtenden Lehrpraxis – wie seit 20 Jahren gefordert;
  • Zeitgemäße Zusammenarbeitsformen.

Das Resümee, das Artur Wechselberger angesichts der Berichte seiner Kollegen aus Deutschland und der Schweiz zieht: „Wir in Österreich haben es verschlafen. Die Sozialversicherung hat es verschlafen und die Gesundheitspolitik hat es verschlafen.“

Situation in Deutschland

Als Hausärzte gelten alle ambulant tätigen Fachärzte für Allgemeinmedizin, Pädiater und mit Einschränkung auch Internisten. Die überwiegende Zahl der Hausärzte ist in einer Ordination selbstständig tätig. Auch im ambulanten Bereich können Ärzte angestellt sein: in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen oder auch in Medizinischen Versorgungszentren. Die Zahl der angestellten Ärzte im ambulanten Bereich steigt kontinuierlich.

Unter „Landarzt“ versteht man Ärztinnen und Ärzte, die auf dem flachen Land arbeiten.

In Deutschland gilt Versicherungspflicht; jeder Bürger unter einer Beitragsbemessungsgrenze muss eine gesetzliche Krankenversicherung abschließen, kann diese aber frei wählen. Selbstständige und Angestellte mit einem Jahreseinkommen über 53.550 Euro können sich bei einer privaten Krankenversicherung versichern.

Situation in der Schweiz

Hausärzte sind hauptberuflich ambulant tätige Ärzte der Fächer Allgemeinmedizin, allgemeine Innere Medizin, Kinder- und Jugendmedizin sowie „praktische Ärzte“; diese verfügen ebenso wie jene in Deutschland über keine Facharztausbildung.

Unter „Landarzt“ versteht man einen Hausarzt in einem ländlichen (peripheren) Gebiet.

In der Schweiz gilt Versicherungspflicht; jeder Bürger muss eine gesetzliche Krankenversicherung abschließen, kann diese aber frei wählen.

Ärzte haben das Recht der freien Niederlassung: jeder Arzt mit mindestens dreijähriger Ausbildung und der vom Kanton die Zulassung zur Ausübung des ärztlichen Berufs hat, muss von den Kassen anerkannt werden.

Situation in Österreich

Unter Hausarzt versteht man in der Regel einen niedergelassenen Allgemeinmediziner – meist mit Kassenvertrag. Grundsätzlich kann jedoch auch ein Facharzt Hausarzt/Vertrauensarzt sein.

Gemäß der Definition der ÖÄK ist man dann Landarzt, wenn man als Allgemeinmediziner mit einem GKK-Vertrag in einer Gemeinde mit bis zu 3.000 Einwohnern tätig ist oder als einer von zwei Kassen-Allgemeinmedizinern in einer Gemeinde eine Ordination betreibt. In Österreich sind rund 1.800 niedergelassene Ärzte (40 Prozent der Kassen-Allgemeinmediziner). 856 Landärzte führen eine Hausapotheke.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2014