Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie: Ver­sor­gungs­män­gel allerorts

10.03.2014 | Politik

Die Bedeu­tung einer aus­rei­chen­den Ver­sor­gung in der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie ist enorm: Von 100 psy­chisch erkrank­ten Kin­dern, die behan­delt wer­den, benö­ti­gen nur 25 als Erwach­sene wie­der eine The­ra­pie. Ver­sor­gungs­män­gel gibt es nicht nur im nie­der­ge­las­se­nen Bereich; auch Akut­bet­ten fehlen.

Rund 20 Pro­zent der Kin­der und Jugend­li­chen unter 18 Jah­ren wei­sen psy­chi­sche Auf­fäl­lig­kei­ten auf; davon ist etwa die Hälfte behand­lungs­be­dürf­tig, zwei Drit­tel davon sogar drin­gend behand­lungs­be­dürf­tig. Häu­fig sind es Ver­hal­tens­stö­run­gen, Stö­run­gen des Sozi­al­ver­hal­tens, Angst­stö­run­gen, Hyper­ak­ti­vi­tät und Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen sowie Fol­gen von Gewalt und Trauma-Fol­ge­stö­run­gen, die bei Kin­dern und Jugend­li­chen behan­delt wer­den. Mit zuneh­men­dem Alter steigt auch die Häu­fig­keit von Depres­sion und mani­schen Erkrankungen.

„In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat sich das Erst­auf­tritts­al­ter der soge­nann­ten typi­schen Erwach­se­nen­stö­run­gen um zwei Jahre nach vorne ver­scho­ben. Viele Krank­hei­ten, die vor weni­gen Jah­ren erst ab etwa 18 Jah­ren auf­tra­ten, sind heute bereits im Jugend­al­ter häu­fig“, sagt Univ. Prof. Leon­hard Thun-Hohen­stein von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie der Para­cel­sus Medi­zi­ni­schen Pri­vat­uni­ver­si­tät Salz­burg. Durch eine vor­ver­la­gerte Puber­tät ver­schie­ben sich vor allem Ess-Stö­run­gen. Sie haben in den ver­gan­ge­nen Jah­ren – ebenso wie Stö­run­gen des Sozi­al­ver­hal­tens und hyper­ak­tive Stö­run­gen – zugenommen.

Res­sour­cen fehlen

Nicht für alle Kin­der und Jugend­li­chen, die eine psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung benö­ti­gen, sind aber auch aus­rei­chende Res­sour­cen bei der The­ra­pie vor­han­den. Viele Betrof­fene kom­men erst nach eini­gen Jah­ren mit psych­ia­tri­scher Stö­rung in eine pro­fes­sio­nelle Behand­lung und Betreu­ung. „In der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie bestehen mas­sive Män­gel. Dazu zählt bei­spiels­weise die Aus­stat­tung mit Bet­ten. Wir ver­fü­gen in Öster­reich der­zeit nur über 55 Pro­zent der not­wen­di­gen Akut­bet­ten“, so Thun-Hohenstein.

Kapa­zi­tä­ten festgelegt

Im Öster­rei­chi­schen Struk­tur­plan Gesund­heit (ÖSG) ist die Not­wen­dig­keit von aus­rei­chen­den Kapa­zi­tä­ten klar fest­ge­legt: Auf 300.000 Ein­woh­ner bedarf es einer kin­der- und jugend­psych­ia­tri­schen Voll­ab­tei­lung mit 30 Bet­ten. Eine Voll­ver­sor­gung mit aus­rei­chen­dem sta­tio­nä­rem und ambu­lan­tem Ange­bot ist jedoch nur in Nie­der­ös­ter­reich und Kärn­ten vor­han­den. Thun-Hohen­stein dazu: „Die Bedeu­tung einer guten kin­der­psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung ist offen­bar nicht bekannt genug. Tat­säch­lich ist es aber so, dass von 100 psy­chisch erkrank­ten Kin­dern und Jugend­li­chen, die im Jugend­al­ter behan­delt wer­den, nur 25 im Erwach­se­nen­al­ter wie­der­kom­men. Der Rest ist nach ent­spre­chen­der Ver­sor­gung gesund.“ Beson­ders bei der Sucht, Foren­sik und Reha­bi­li­ta­tion spare eine erfolg­rei­che The­ra­pie in jun­gen Jah­ren erheb­li­che Zukunfts­kos­ten. Den­noch wer­den die not­wen­di­gen Inves­ti­tio­nen im Bereich der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie nicht gesetzt, so Thun-Hohenstein.

Berufs­per­spek­ti­ven verbessern

Durch den Man­gel an Abtei­lun­gen für spi­tals­pflich­tige Pati­en­ten besteht zusätz­lich ein Man­gel an Aus­bil­dungs­stel­len. Benö­tigt wer­den in Öster­reich rund 350 Fach­ärzte für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie, der­zeit gibt es etwa ein Drit­tel davon. „Inter­es­sen­ten gäbe es aus­rei­chend, aller­dings feh­len die Stel­len, wo sie unter­kom­men könn­ten. Um ent­spre­chende Berufs­per­spek­ti­ven bie­ten zu kön­nen, braucht es zudem aus­rei­chend Kas­sen­ver­träge für nach­kom­mende nie­der­ge­las­sene Fach­ärzte“, sagt Univ. Prof. Andreas Kar­wautz, Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie (ÖGKJP) und Lei­ter der Ambu­lanz für Ess­stö­run­gen im Kin­des- und Jugend­al­ter an der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie am AKH Wien.

Die ÖÄK begeg­nete dem Man­gel, indem sie Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie als Man­gel­fach defi­nierte. Kar­wautz wei­ter: „Wir müs­sen rasch Aus­bil­dungs­mög­lich­kei­ten schaf­fen, um die Pra­xen, die es zur Ver­sor­gung brau­chen wird, über­haupt beset­zen zu können.“

Wenn sich auch die Situa­tion in Wien mit der Schaf­fung von sechs Kas­sen­plan­stel­len für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie in die­sem Jahr etwas ent­spannt, so sieht der Kuri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte in der ÖÄK, Johan­nes Stein­hart, unver­än­dert gewal­tige Her­aus­for­de­run­gen in die­sem Bereich. „Geht man von Berech­nun­gen der WHO aus, so wer­den Depres­sio­nen 2020 nach Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen welt­weit die zweit­häu­figste Erkran­kung sein. Wenn Jugend­li­che nicht recht­zei­tig eine adäquate fach­ärzt­li­che Behand­lung erhal­ten, ist das nicht nur in medi­zi­ni­scher Hin­sicht eine Kata­stro­phe, son­dern ver­ur­sacht auch volks­wirt­schaft­lich enorme zusätz­li­che Kos­ten.“
EG

Inter­view – Char­lotte Hartl

Fach­ärzte-Defi­zit in den nächs­ten 20 Jahren

Ab sofort müss­ten dop­pelt so viele Fach­ärzte für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie aus­ge­bil­det wer­den, damit Öster­reich in 20 Jah­ren inter­na­tio­nale Stan­dards erreicht, sagt Char­lotte Hartl, Bun­des­fach­grup­pen­ob­frau für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie in der ÖÄK, im Gespräch mit Marion Huber.

ÖÄZ: Wie viele Fach­ärzte, Kas­sen­stel­len und Bet­ten für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie gibt es in Öster­reich? Und wie viele bräuch­ten wir?
Hartl: Aktu­ell haben wir 161 Fach­ärzte für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie, 98 davon sind im Kern­be­reich tätig. Wir benö­ti­gen aber rund 350. Was Kas­sen­stel­len anbe­langt, gab es bis zum Vor­jahr für ganz Öster­reich zwölf Kas­sen-Fach­ärzte, not­wen­dig wären rund 100. Im intra­mu­ra­len Bereich haben wir öster­reich­weit etwa die Hälfte der Ver­sor­gungs­plätze, die wir eigent­lich bräuch­ten. Ins­ge­samt ist die Ver­sor­gungs­struk­tur in Kärn­ten und Vor­arl­berg am bes­ten. Neu ist, dass Wien für 2014 sechs Kas­sen­stel­len für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie bekommt. Damit blei­ben noch das Bur­gen­land, Salz­burg und die Stei­er­mark ganz ohne Kas­sen­stel­len in die­sem Fach.

Wie kann man das Defi­zit aus­glei­chen?
Das Haupt­pro­blem ist, dass wir keine Fach­ärzte haben. Man muss ein­fach – und das ist poli­tisch schla­gend – mehr Aus­bil­dungs­stel­len instal­lie­ren. Dazu muss im intra­mu­ra­len Bereich die Ver­sor­gung hin­auf­ge­fah­ren, Abtei­lun­gen und Bet­ten ein­ge­rich­tet wer­den – und das ist Sache der Län­der. Das allein wird aber nicht aus­rei­chen. Auch die Ärzte-Aus­bil­dungs­ord­nung muss geän­dert wer­den und es müss­ten ins­ge­samt mehr Fach­ärzte aus­ge­bil­det wer­den, denn sonst kann man extra­mu­ral keine Struk­tu­ren auf­bauen. Wenn wir jetzt die Aus­bil­dungs­stel­len ver­dop­peln, kön­nen wir in 20 Jah­ren das Defi­zit annä­hernd aus­glei­chen und einen inter­na­tio­na­len Stan­dard errei­chen. Damit man die Ver­sor­gungs­struk­tu­ren über­haupt auf­bauen kann, müs­sen jetzt Schritte gesetzt und poli­ti­sche Bedin­gun­gen geschaf­fen wer­den. Es feh­len ein­fach 30 Jahre Ent­wick­lung – und die kann man nicht aus dem Hut zaubern.

Wie ist die kin­der- und jugend­psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung in Öster­reich im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern?
Sie ist noch weit vom inter­na­tio­na­len Stan­dard entfernt.


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2014