Interview – Sabine Oberhauser: „Über den Tellerrand denken“

10.11.2014 | Politik

Sie wäre an die Gesundheitsreform anders herangegangen, strebt die Redimensionierung von Bürokratie und Administration an, will klar definierte Bereiche für Ärzte und Pflegepersonal und insgesamt mehr Zeit ins System bringen – Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ) im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Alois Stöger hat zwei Riesenprojekte geplant: die Gesundheitsreform und ELGA. Ihre Aufgabe ist es nun, beide umzusetzen. Was wäre anders gelaufen, wenn diese Projekte unter einer Ministerin Oberhauser an den Start gegangen wären?
Oberhauser: Bei der Gesundheitsreform hätte ich die Kommunikation wahrscheinlich anders aufgezogen. Ich hätte versucht, schon vorher mit allen Betroffenen Gespräche zu führen, um Unstimmigkeiten zu vermeiden. Ich bin jemand, der sagt: ich bringe alle an einen Tisch, wir streiten uns dort aus und suchen dann einen gemeinsamen Weg. Die Gesundheitsreform hätte ich anders gemacht. Ich würde viel frühzeitiger einbinden.

Das war einer der heftigsten Kritikpunkte der Ärzte, dass man sie nicht eingebunden hat.
Das kritisieren Ärzte immer, dass Entscheidungen ohne sie fallen. Nichtsdestotrotz muss man sie einbinden und das ausstreiten. Ich hätte nicht nur Ärzte, sondern alle möglichen Partner viel früher eingebunden.

Und bei ELGA?
Bei ELGA muss ich die Kritik eher zurückgeben. ELGA haben die Ärzte eskaliert. Da waren die Ärzte von Anfang an eingebunden und haben das eskaliert: kritisiert aus verständlichen Gründen, eskaliert aus mir unverständlichen Gründen. Da bin ich mir nicht sicher, ob die Information von denen, die sie haben, gut an die Ärztinnen und Ärzte weitergegeben wurde.

Einer der Geschäftsführer der führenden Softwareentwickler für niedergelassene Ärzte ist derMeinung, dass nur fünf Prozent der Patienten beim Hausarzt von ELGA profitieren werden, und zwar die Patienten, die neu kommen und von denen der Arzt bislang keine Daten hat.
Das glaube ich nicht. ELGA wird einen flachen Anfang haben und dann steil in die Höhe ansteigen. Wenn ELGA morgen starten würde, wäre von Oberhauser wahrscheinlich nichts drin. Es würde erst nach und nach dazu kommen. Ich glaube, dass Patienten nicht nur beim Hausarzt von ELGA profitieren, sondern profitieren, wenn sie in ein Spital gehen, wenn zum Beispiel vorher eine Untersuchung gemacht wurde und man die nachher nicht mehr machen muss. Ich glaube, dass auch die Hausärzte profitieren, weil sie nicht mehr unterschiedliche Arztbriefe hätten, sondern weil sie in einem standardisierten Dokument genau wüssten, wo steht was und ich glaube, das spart Zeit.

Wie kann und soll die Zusammenarbeit von Arzt, Krankenschwester und Ordinationsassistentin in den geplanten Primary Health Care-Zentren funktionieren? Wer trägt die Letztverantwortung vor allem im Hinblick auf rechtliche Belange, wenn alle im Team gleichberechtigt sind?
Wie das Bild eines Primärversorgungszentrums aussehen wird, wird sehr unterschiedlich sein. In manchen Regionen werden es Partner in unterschiedlichen Orten sein, die sich zusammentun. In manchen Regionen – vermutlich in Ballungszentren – wird es ein Haus sein, wo mehrere Berufsgruppen zusammenarbeiten. Das wird eine Mischung sein aus Menschen, die gemeinsam versuchen, Patienten, eine Region, etc. zu versorgen. Letztverantwortlich ist jeder für das, was er dort leistet. Eine Krankenschwester ist dementsprechend in ihrem Bereich, den ihr das Gesetz gibt, letztverantwortlich.

Primary Health Care bedeutet also nicht automatisch Zentrum.
Genau.

Die Diskussion um den mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich von Turnusärzten und Krankenschwestern ist nach wie vor ein Thema. Dazu kommen Bestrebungen von Angehörigen der Pflegeberufe, immer mehr ärztliche Tätigkeiten zu übernehmen, beispielsweise kleine Operationen wie Venen- Entnahmen durchzuführen oder auch zu endoskopieren. Wie passt das zusammen?
Durch gute Ausbildung und durch hoffentlich ein bald fertiges Berufsgesetz für die Gesundheits- und Krankenpflege. Wir arbeiten derzeit an einer Novelle des GuKG, wo ich gerne hätte, dass die Bereiche klar definiert sind. Dazu muss man natürlich sagen, dass in der Realität die Ausbildung der Krankenpfleger gut ist, die könnten das wahrscheinlich auch. Das Problem ist, dass sie überfrachtet sind so wie die Ärzte mit Tätigkeiten, die eigentlich jemand anderer besser könnte. Und die Frage mit der Venenentnahme: Das ist ein Entwurf, der Füße gekriegt hat. Das ist ja auch etwas, was nicht eine österreichische Novität wäre. Wir wissen, dass in angloamerikanischen Ländern diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal für den Bypass bei Herzoperationen die Venen entnimmt. Aber ich glaube, dass das derzeit keine Diskussion ist. Derzeit sollte man schauen, dass Patienten möglichst gut versorgt sind und zwar nicht in einem Gegeneinander, sondern in einem Miteinander der beiden Berufsgruppen. Da braucht es klar definierte Bereiche für beide.

Überfrachtet mit anderen Tätigkeiten wie etwa Bürokratie und Administration sind Spitalsärzte jedenfalls. Turnusärzte verbringen bereits rund die Hälfte ihrer Zeit damit. Was tun dagegen?
Man sollte vielmehr in Form von Standards dokumentieren. In standardisierten Arztbriefen kann ich die Diagnose etc. kurz hineinschreiben, ein anderer Arzt tut sich dann leichter beim Lesen. Ärztliche Dokumentation muss auch von Ärzten gemacht werden. Die Frage des Unterscheidens – und hier sind wahrscheinlich die Spitalsträger und die Berufsgruppen gefragt – zwischen der wirklich notwendigen Dokumentation und dem, was unnötig ist, betrifft alle Berufsgruppen. Da wäre ein Redimensionieren, und zwar durchaus aus eigenem Antrieb heraus, etwas Gescheites.

Müssen Überweisungen für verschiedenste Untersuchungen wirklich Ärzte schreiben? Das könnten doch auch Dokumentationsassistenten – oder?
Die Frage: Wer macht was? und die Frage von Stationsassistenten oder Dokumentationsassistenten muss man sich wirklich genau anschauen. Man muss schauen: Wie kann man die Abläufe möglicherweise einfacher machen? Aber das sind Dinge, die sich eigentlich aus dem Miteinander im Spital entwickeln müssten, dass man etwa den Posten einer Pflegekraft mit einer Sekretärin besetzt. Da kann der Gesetzgeber relativ wenig dazu tun. Das müssen sich die Träger letztendlich überlegen. Ich gaube, dass es wichtig wird und dass es immer wichtiger werden wird, hier zu strukturieren, weil die Arbeitszeiten kürzer werden und das Personal weniger wird.

Bis in Österreich das neue KA-AZG mit der 48-Stunden-Woche Realität ist, wird es noch rund sieben Jahre dauern. Zu lange – sagen viele. Wie sehen Sie das?
Es ist eine lange Zeit, wobei wir wissen, dass das bereits jetzt in einigen Bundesländern EU-konform passt. Umgekehrt erhalte ich aus Ärztekreisen die Information, dass es Sorge gibt, dieAusbildung nicht mehr zu schaffen, wenn die Arbeitszeiten zu kurz sind – das ist die andere Seite der Medaille. Ich glaube, dass es wichtig ist in einem belastenden Beruf – wie es die medizinischen Berufe sind –, auch normale strukturierte Arbeitszeiten zu haben und da bin ich froh, dass wir es so geregelt haben. Ich glaube ja, dass wir es früher schaffen.

Von den jährlich rund 1.400 Medizin-Absolventen in Österreich beginnen gerade einmal rund 900 hier ihre ärztliche Tätigkeit. Da wird eine riesige Ressource an Geld und auch an Human brain verschwendet. Was muss man da tun?
Das, was ich tun kann und was ich tue, ist gemeinsam mit der Ärztekammer die Ausbildungsregeln so gut wie möglich zu machen. Da haben wir mit dem Ärztegesetz jetzt einmal einen wirklich guten Schritt gemacht in der Frage der besseren Strukturierung, auch in der Frage der Lehrpraxis. Das heißt: Wie können wir versuchen, die Leute möglichst gut auszubilden und ihnen möglichst auch die Chance zu geben, in die Lehrpraxis zu gehen. Das ist das, was der Gesetzgeber tun kann. Dann sind es die Träger: Die Arbeitszeiten sind adäquat zu gestalten und das Ganze in den Spitälern mit Leben zu befüllen. Und da ist die Frage: Wie strukturiere ich das Miteinander der Berufsgruppen? Das ist die zweite Geschichte, wo der Gesetzgeber, in dem Fall ich, nicht eingreifen kann. Wenn ich weiß, ich habe strukturierte Arbeitszeiten, werden die Turnusärzte dorthin gehen. Da werden dann – glaube ich – die Füße entscheiden.

Vorarlberg hat bei den Lehrpraxen ein richtungsweisendes Modell auf den Tisch gelegt. Alle – Bund, Land, GKK und Lehrpraxisinhaber – finanzieren jeweils mit verschiedenen Anteilen. Wäre das nicht ein Projekt, das man gleich bundesweit umsetzen sollte?
Das Vorarlberger Modell ist ein Modell, an dem wir uns sicher auch orientieren werden und wir hoffen, dass wir im Bund relativ rasch zu einer Lösung der Finanzierungsfrage kommen.

Wie rasch?
Wir rechnen, dass wir frühestens 2016 die ersten Lehrpraktikanten haben, die in diese neue Regelung hineinkommen.

Ein Erbe von Alois Stöger ist die Frage der Hausapotheken. Ihre Zahl geht stetig zurück, aber die Zahl der älteren und oft immobilen Menschen nimmt stark zu. Welche Lösungen gibt es hier?
Als ich noch Gesundheitssprecherin im Nationalrat war, gab es einen Allparteien- Entschließungsantrag für die Neuregelung der Medikamentenversorgung vor allem für die Menschen am Land. Das werden wir möglichst rasch angehen und auch schauen, dass wir mit der Frage der Primärversorgungszentren einfach neue Lösungen finden. Keine Frage, wir werden auch von den Apotheken bessere Liefermöglichkeiten und Öffnungszeiten verlangen. Es wird ein großes Paket sein, wo die Hausapotheken sicherlich auch ein Teil sind. Das sind wir der Bevölkerung am Land schuldig.

Sie haben vor einigen Monaten Ihre ‚persönliche tägliche Turnstunde‘ eingeführt und machen mit Ihrem Hund Felix einen ausgedehnten Morgenspaziergang. Wieso gelingt es nicht, die tägliche Turnstunde in der Schule umzusetzen?
Wenn es uns gelingt, Sport und Bewegung attraktiv zu machen, dann muss das nicht in der Schule sein. Was ja derzeit versucht wird und wirklich gut ist, das ist die Kooperation mit den Vereinen. Wir müssen schauen, dass wir Kindern den Spaß an der Bewegung wieder geben.

Immer wieder ist die Rede davon, wie wichtig der Allgemeinmediziner ist, dass man den Hausarzt, die Allgemeinmedizin insgesamt fördern muss. Es tut sich wenig, auch wenn man etwa an den Stellenwert der Allgemeinmedizin an den Universitäten denkt.
Was mir sehr zu denken gibt, ist, dass wenig Ärztinnen und Ärzte in einen Kassenvertrag wollen, und dass viele Menschen zum Wahlarzt gehen. Ich denke mir: Der Arzt soll Spaß haben an der ärztlichen Tätigkeit und der Patient soll das Gefühl haben, er ist keine Nummer, er wird ernst genommen. Wenn ich mir was wünschen könnte, dann, dass ich es schaffe, wieder ein bissl mehr Zeit in dieses System hineinzubringen und zwar Zeit in der Form, dass die Ärzte zufrieden arbeiten und die Patienten gut betreut sind. Dafür wird vieles notwendig sein und ein ‚über den Tellerrand denken‘ sowohl von den Ärzten als auch von der Sozialversicherung bei Fragen wie strukturiere, wie honoriere ich ein System, in dem man arbeiten kann, ohne dass man schauen muss, dass man auf die nötige Menge kommt.

60 Prozent der Turnusärzte sind bereits Frauen. Was wollen Sie hier tun, damit Frauen ihren Beruf ausüben können?
Das ist eine der Stärken, die so ein Primärversorgungszentrum haben könnte, nämlich, dass man sich etwa einen Vertrag teilt, Teilzeitmodelle für Ärztinnen – ob man das jetzt mag oder nicht – und vielleicht auch die Scheu zu nehmen, aufs Land zu gehen. Bei diesen Primärversorgungszentren ist viel gefordert. Ich bin wirklich auch noch dabei, mir im Kopf mein Bild zu machen, nämlich zu überlegen: Wie hätte ich es gern oder wie könnte ich es mir vorstellen?

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2014