Interview – Johannes Steinhart: „Primary Health Care ist keine Lösung“

10.06.2014 | Politik

Die medizinische Leistungsfähigkeit wird in Primary Health Care-Zentren nicht erhöht, weswegen auch die Spitalsambulanzen nicht entlastet werden, erklärt der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK, Johannes Steinhart. Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.


ÖÄZ: Woran machen Sie Ihre Kritik an dem von der Politik präferierten PHC-Modell fest?

Steinhart: Für mich stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit ein Modell, das aus den 1970er Jahren stammt, überhaupt noch unserer Zeit entspricht besonders im Hinblick auf die technologische Entwicklung und die Möglichkeiten der modernen Telekommunikation.

In den skandinavischen Ländern wird es aber mit Erfolg praktiziert.
Dort sind die Gegebenheiten auch völlig andere. In Finnland zum Beispiel beträgt die Bevölkerungsdichte 16 Einwohner pro Quadratkilometer, in Österreich sind es 116 Einwohner pro Quadratkilometer. Ob also ein solches Modell, das sich in entlegenen Regionen der finnischen Tundra bewährt hat, 1:1 auf eine Großstadt wie Wien umgelegt werden kann, das muss man zumindest in Frage stellen dürfen. Gerade hochrangige Vertreter des Gesundheitsministeriums betonen ja immer wieder, dass bei einer Gesundheitsreform die jeweilige Kultur der Bevölkerung zu berücksichtigen ist.

Was stört Sie konkret an den jetzt vorliegenden Primary Health Care-Konzepten?
Wenn man das Konzept liest, bekommt man gleich auf den ersten Seiten zwei Zugänge präsentiert: nämlich erstens die Zentrenbildung und zweitens die Vernetzung von bestehenden Strukturen sowie deren Weiterentwicklung.

Aber die Vernetzung ist ja eines der Kernanliegen der Kurie – oder?
Grundsätzlich ja. In der besseren Vernetzung von bestehenden Strukturen würde sich durchaus ein Weg aufzeigen, den wir auch gehen können und wollen. Aber müssen wir deswegen gleich die bestehenden Strukturen abschaffen? Sind die so schlecht? Immerhin haben genau diese bei manchen Politikern und auch ihren vorgeschobenen Vasallen so verteufelten und als veraltet bezeichneten Leistungserbringer Österreich im Ranking der Gesundheitssysteme an eine der vordersten Stellen gebracht – ohne irgendwelche Gesundheitsplaner oder sogenannte Fachleute.

Primary Health Care-Zentren sollen zur Entlastung der Spitalsambulanzen beitragen. Wird das tatsächlich so sein?
Die Überlegung, eine Gruppenpraxis von Allgemeinmedizinern mit zusätzlichen Gesundheitsberufen aufzupeppen, klingt ja ganz gut, aber was leistet sie dann wirklich mehr? Konkret sollen diese Zentren von Montag bis Freitag von 9h bis 19h geöffnet sein. Ist das wirklich die kritische Zeit? Es kommt zwar zu einer Ausweitung der Öffnungszeiten auf 60 Stunden, was auch einen nicht unwesentlichen zusätzlichen Bedarf an Assistentinnen und Hilfskräften bedeutet. Aber das Angebot in der Ordination im Bereich der Allgemeinmedizin und die medizinische Leistungsfähigkeit eines solchen Zentrums werden dadurch nicht wirklich erhöht. Ich glaube auch nicht, dass man damit den Zustrom zu den Spitalsambulanzen eindämmen kann. Hängt die Entscheidung der Patienten für eine Spitalsambulanz nicht vielmehr damit zusammen, dass im Spital einfach alle Leistungen verfügbar sind?

Besonders nicht-ärztliche Dienstleister haben großes Interesse am Primary Health Care-Modell.
Das ist nur zu verständlich. Die Frage ist, ob das in der gewählten Form auch sinnvoll ist. Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten würden dort tätig sein, der ärztlichen Tätigkeit nachgeschaltet, was keine Geringschätzung bedeutet, sondern einfach nur der Ausbildungsordnung und dem Berufsrecht entspricht. Mit dem jetzt geplanten Modell würden all diese nicht-ärztlichen Dienstleister quasi von unten in unser bisheriges Finanzierungssystem hineingeschoben und somit auch von diesem finanziert. Dabei heißt es doch immer, wir haben kein Geld für neue medizinische Leistungen. Diese Diskussion ist ja nicht neu, wir haben sie schon vor vielen Jahren geführt. Damals wie heute ist es für mich keine Frage, dass diese Berufe im niedergelassenen Be-reich willkommen sind – aber dann muss es dafür auch eine neue Finanzierungsschiene geben.

Von Seiten des Hauptverbandes wird sofort das Argument kommen, dass es Ihnen nur ums Geld geht. Ist das so?
Das ist ganz falsch. Wenn ich nur an die Kassenverhandlungen in Wien denke, wie unser Gegenüber schon bei marginalen Erhöhungen der Kassen-Jahresbilanz jammert. Müssten wir nicht bei jeder Verhandlung akzeptieren, dass die Krankenkassen praktisch insolvent sind? Und gleichzeitig erhalten wir aber via Presseaussendung vom Chef des Hauptverbands die Jubelmeldung über die angeblich so tolle Sanierung eben dieser Kassen. Also was jetzt?

Also bleibt bei den Spitalsambulanzen alles wie gehabt?
Das Primary Health Care-Modell bringt bei nicht unbeachtlichen Mehrkosten für Assistentinnen, Ordinationsmanager, Ordinationshilfen, Therapeuten etc. nur eine Verbreiterung der Ordinationszeiten, aber keine inhaltliche Weiterentwicklung, um den Zustrom ins Spital zu verhindern. Ich glaube auch nicht, dass das Leistungsangebot, das wir schon jetzt zwischen 7h und 19h vorhalten, so gering ist, wie es dargestellt wird. Müsste man konsequenterweise nicht die überlasteten Kollegen in den Spitälern in der Nacht von der Belastung der überfüllten Ambulanzen befreien?

Wie soll die Versorgung im niedergelassenen Bereich Ihrer Ansicht nach künftig aussehen?
Anstatt hier Strukturen aufzubauen, in die man unzählige Millionen Euro an Verwaltungskosten hineinstecken muss, wäre es viel wichtiger, die im niedergelassenen Bereich bereits vorhandenen Strukturen hinsichtlich der Abläufe von Prozessen, der Kommunikation und im Bereich der Organisation zu vernetzen. Schon allein durch eine bessere Vernetzung könnten viele Qualitäten des Systems besser aufrechterhalten werden und gleichzeitig der Output in fachlicher Hinsicht erhöht werden. ELGA in der derzeit vorliegenden Form ist weder sinnvoll noch erleichtert es die Arbeit von Ärzten. Es ist ein von Bürokraten erstellter und in ihren Augen vermeintlicher Fortschritt. Das Geld, das dort verschleudert wird, sollte besser in Leistungen im niedergelassenen Bereich investiert werden.

Warum hat PHC bei den Entscheidungsträgern einen so hohen Stellenwert?
Ich habe den Verdacht, dass schon allein das Wort ‚Zentrum‘ bei so manchem sogenannten Entscheidungsträger ein weltanschauliches Wohlgefühl auslöst, und dieses Wohlgefühl wird eher durch eine Ideologie aus vergangenen Tagen oder durch präformiertes Denken, das aber leider nicht Patienten-orientiert ist, bestimmt. Zentren an sich haben schon ihre Berechtigung – aber nur dort, wo sie notwendig sind, um auch das Leistungsangebot anzuheben. Ein Zentrum kann aber niemals ein Versorgungsmodell der ersten Ebene sein, denn das Wichtigste und Entscheidendste ist immer noch die Patienten-Arzt-Beziehung. Darauf ruhen weite Bereiche der Versorgung, wie man ja auch im Hausarztmodell der ÖÄK gutsehen kann. Das ist eigentlich für jeden Arzt sonnenklar, dass die Arzt-Patienten- Beziehung neben der fachlichen Kompetenz einer der wichtigsten Faktoren bei der Behandlung darstellt. Darauf vergessen die Entscheidungsträger im Gesundheitssystem nur allzu gerne, denn sie kennen den Zugang zum Gesundheitssystem nur aus der Sicht der Planer am Schreibtisch, das ärztliche Tun ist ihnen völlig fremd. Nicht anders ist zu erklären, dass es auch keinerlei monetäre Anreize gibt und wieso man sich für einen ‚normativen‘ Zugang entschieden hat – was konkret so viel heißt wie: ‚Wir bestimmen etwas und die Finanzierung interessiert uns nicht‘.

Gibt es noch weitere wichtige Faktoren für die Versorgung im niedergelassenen Bereich?
Neben der Beziehung zwischen Arzt und Patient, die natürlich auch die freie Arztwahl beinhaltet, ist die leichte örtliche Erreichbarkeit von entscheidender Bedeutung. Die wohnortnahe Primärversorgung, dass der Arzt zu Fuß erreichbar ist, muss erhalten bleiben. Entfernungsberechnungen in Autominuten bringen alten Menschen nichts. Primary Health Care ist keine Lösung. Die einzige Möglichkeit, all diese Wünsche sinnvoll umzusetzen, ist eine integrierte Versorgung. Nur so können alle vorhandenen Qualifikationen sinnvoll genutzt werden. Und für die Notfälle zu Randzeiten, in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen sollten wir mit dem Funkdienst beispielsweise vier bis fünf Zentren betreiben, die dem Patienten eine schnelle Ansprache, aber auch einen schnellen und strukturierten Zugang zu weiteren medizinischen Leistungen bieten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2014