Inter­view – Armin Fid­ler: „Wir haben ein Verteilungsproblem“

15.12.2014 | Politik

Öster­reich hat ein ganz spe­zi­fi­sches Pro­blem: wir geben sehr viel Geld aus im Gesund­heits­sys­tem und begnü­gen uns mit nur mit­tel­mä­ßi­gen Resul­ta­ten. Die­sen Schluss zieht der Vor­arl­ber­ger Armin Fid­ler, der 20 Jahre als Chef­be­ra­ter für Gesund­heits­po­li­tik und Gesund­heits­stra­te­gie bei der Welt­bank tätig war. Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Sie waren 20 Jahre Chef­be­ra­ter bei der Welt­bank – was genau kann man sich dar­un­ter vor­stel­len?
Fid­ler: Die Welt­bank ist eine der weni­gen Insti­tu­tio­nen, die Gesund­heit in einem holis­ti­schen Rah­men sieht. Für die Welt­bank bedeu­tet Gesund­heit, dass man zum Auf­bau des Gesund­heits­sys­tems und zur Gesund­erhal­tung auch andere Varia­blen benö­tigt, wie zum Bei­spiel ein funk­tio­nie­ren­des Erzie­hungs­sys­tem, eine funk­tio­nie­rende Infra­struk­tur, eine funk­tio­nie­rende Telekommunikationsstruktur.

Kön­nen Sie das an einem Bei­spiel erklä­ren?
Die beste Inves­ti­tion, um die Müt­ter- Sterb­lich­keit einer bestimm­ten Region zu sen­ken, ist nicht unbe­dingt eine Inves­ti­tion im Gesund­heits­be­reich, son­dern eine Brü­cke über den Fluss zu bauen, damit schwan­gere Frauen für die Geburt in ein Kran­ken­haus kom­men können.

Wel­che Auf­ga­ben hat die Welt­bank ganz all­ge­mein?
Die Welt­bank inves­tiert in 20 ver­schie­de­nen Sek­to­ren der Öko­no­mie und dabei wird natür­lich auf das Zusam­men­spiel geschaut. Wir brau­chen eine sta­bile Makro­öko­no­mie, eine sta­bile Infra­struk­tur, gut aus­ge­bil­dete Pro­fes­sio­nals, Kin­der, die in die Schule gehen und Leh­rer. Das wird von der WHO ja auch als ‚health in all poli­cies‘ apo­stro­phiert, dass jeder Sek­tor der Öko­no­mie mit den ande­ren zusam­men­spie­len muss. Nur wenn das Zusam­men­spiel funk­tio­niert, dann funk­tio­niert auch das Gesund­heits­sys­tem und der Gesund­heits­sta­tus der Bevöl­ke­rung kann so garan­tiert wer­den. Und dann ist es natür­lich auch wich­tig, dass die Minis­te­rien in den betrof­fe­nen Län­dern auch an einem Strang zie­hen und man Zugang zu die­sen Per­so­nen hat. Wenn das meh­rere zer­stü­ckelte Sek­to­ren sind, wo jeder ver­sucht, sein Süpp­chen zu kochen, fehlt die­ses Zusam­men­spiel und es gibt auch nicht die Resul­tate, die man erwar­ten könnte. Es wäre aber ver­fehlt zu sagen, dass man sich Gesund­heit erkau­fen kann, wenn man nur in ein paar Krank­hei­ten oder in das Gesund­heits­sys­tem investiert.

Was läuft aktu­ell bei der Bekämp­fung von Ebola schief?
Wir ste­hen hier vor der Situa­tion, dass es das Gesund­heits­sys­tem als sol­ches in die­sen Län­dern eigent­lich nicht gibt. Vor dem Aus­bruch von Ebola gab es in Libe­ria für 4,5 Mil­lio­nen Men­schen 50 Ärzte – die sind jetzt weg. Die Pro­ble­ma­tik, die ich hier sehe, hat mit unse­rer Ent­wick­lungs- Zusam­men­ar­beit zu tun.

Inwie­fern?
Die gro­ßen inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen sind bei der Ent­wick­lungs­hilfe in den letz­ten Jahr­zehn­ten einen Weg gegan­gen, der für die jewei­li­gen Insti­tu­tio­nen nach­voll­zieh­bar ist, aber für die Emp­fän­ger­län­der nicht unbe­dingt sehr zweck­mä­ßig war. Man hat sich auf ‚attrak­tive‘ Erkran­kun­gen wie Aids, Tuber­ku­lose, Mala­ria und auch auf das Impf­we­sen kon­zen­triert – alles Dinge, bei denen man sehr rasch mess­bare Erfolge ver­bu­chen kann. Aber das hat dem schon schlech­ten Gesund­heits­sys­tem in die­sen Län­dern mehr gescha­det als genutzt, denn mit Mil­li­ar­den Dol­lar hat man hier par­al­lele Struk­tu­ren zum ohne­hin fast nicht bestehen­den Gesund­heits­we­sen etabliert.

Kön­nen Sie die Auf­re­gung rund um Ebola nach­voll­zie­hen?
Nicht wirk­lich. Rein medi­zi­nisch-bio­lo­gisch gese­hen ist Ebola keine anste­ckende Krank­heit. Die Infek­tio­si­tät von Ebola ist nicht zu ver­glei­chen mit der von Grippe, SARS oder Masern. Auch wenn man im Flug­zeug neben einem akut an Ebola Erkrank­ten sitzt, ist eine Über­tra­gung prak­tisch aus­ge­schlos­sen, außer der­je­nige niest einem direkt in die Mund­höhle hin­ein. Ebola ist zwei­fel­los tra­gisch: Es gibt rund 10.000 Fälle, rund 6.000 Men­schen sind daran gestor­ben. Aber es ster­ben mehr Men­schen auf Euro­pas Stra­ßen, es ster­ben weit mehr durch sekun­dä­ren Niko­tin­kon­sum, an Alko­hol, Krebs oder kar­dio­vas­ku­lä­ren Erkran­kun­gen. Man muss das immer im Kon­text behalten.

Wie erle­ben Sie die Gesund­heits­ver­sor­gung in den USA?
In den 22 Jah­ren, in denen ich bei der Welt­bank tätig war, habe ich die beste Gesund­heits­ver­si­che­rung gehabt, die man in Ame­rika haben kann. Und trotz­dem: Das ist der­ar­tig büro­kra­tisch, das ist der­ar­tig schlecht, das kann man sich in Öster­reich gar nicht vor­stel­len. Wir leben da wirk­lich auf einer Insel der Seli­gen: Die Men­schen haben freie Arzt­wahl, freie Kran­ken­haus­wahl und sie bekom­men ja fast alles, was medi­zi­nisch not­wen­dig ist und zur Ver­fü­gung steht.

Sie haben im Zuge Ihrer Tätig­keit Ein­blick in unter­schied­lichste Gesund­heits­sys­teme gehabt. Wie steht Öster­reich im Ver­gleich da?
Im inter­na­tio­na­len Ver­gleich der OECDLän­der geht es uns in Öster­reich unglaub­lich gut. Aber wir haben ein ganz spe­zi­fi­sches Pro­blem: Wir geben sehr viel Geld aus für medio­kre Resul­tate. Es ist eigent­lich depri­mie­rend, weil wir viel bes­ser sein könn­ten mit den Res­sour­cen, die wir aus­ge­ben. Aber wir ver­schwen­den und ver­schlam­pen sie: Es gibt keine gute Qua­li­täts­kon­trolle, es ist immer noch eine Repa­ra­tur­me­di­zin. Die Offen­sive der Bun­des­re­gie­rung mit der Gesund­heits­re­form finde ich einen guten Ansatz. Ich frage mich: wird es gelin­gen, das alles umzusetzen?

In Öster­reich ist die Impf­mü­dig­keit ein gro­ßes Pro­blem. Kön­nen Sie das – als ehe­ma­li­ger WHO-Mana­ger für Imp­fun­gen und Impf­pro­gramme – nach­voll­zie­hen?
Es ist nur sehr schwer nach­voll­zieh­bar. Das ist auch ein Punkt, wo wir im OECDBe­reich hin­ten nach hin­ken. Es gibt auch ein paar andere Län­der, die ebenso schlimm dran sind. Inter­es­san­ter­weise sind es die deutsch­spra­chi­gen Län­der, also Deutsch­land und die Schweiz.

Haben Sie eine Erklä­rung dafür?
Warum das so ist, weiß ich nicht. Die­je­ni­gen, die gegen das Imp­fen mobi­li­sie­ren, apo­stro­phie­ren sich zum Teil ja als gebil­det. Wis­sen­schaft­lich ist die Argu­men­ta­tion der Impf­geg­ner ein abso­lu­ter Schwach­sinn. Ich finde es hoch­gra­dig unver­ant­wort­lich. Ich habe über­haupt nichts dage­gen, wenn man als Erwach­se­ner sol­che Ent­schei­dun­gen trifft. Aber ich habe sehr viel dage­gen, wenn Erwach­sene wis­sen­schaft­lich untrag­bare Ent­schei­dun­gen tref­fen für min­der­jäh­rige Kin­der. Mir gefällt die Rege­lung in den USA sehr gut. Man darf nicht in den Kin­der­gar­ten oder in die Schule gehen, wenn man kein voll­stän­di­ges Impf­zeug­nis hat. Damit ist auch mit dem Unfug Schluss.

Sie haben die WHO-Stra­te­gie „Health in all poli­cies“ ange­spro­chen. Die Ansätze in Öster­reich sind eher zag­haft. So wird etwa an Schu­len die gesunde Jause pro­pa­giert. Ist das – ange­sichts der gro­ßen Zahl an über­ge­wich­ti­gen Kin­dern und Jugend­li­chen – nicht ein biss­chen wenig?
Ich glaube, das ist ein Beginn. Aber es for­dert einen mul­ti­sek­to­ri­el­len Ansatz. Eine der Haupt­ur­sa­chen für kind­li­che Adi­po­si­tas ist nicht nur die man­gelnde Bewe­gung, son­dern die Über­flu­tung mit Zucker in allen mög­li­chen Dar­bie­tungs­for­men. Man ist inzwi­schen drauf­ge­kom­men, dass die ehe­mals als so gesund erach­te­ten Frucht­säfte sehr unge­sund sind, weil sie den Kör­per mit Zucker anflu­ten, ohne die not­wen­di­gen Bal­last­stoffe mit­zu­lie­fern, die ein­fach eine lang­sa­mere Absorp­tion des Zuckers bewirken.

Gesund­heit wird gerne als Kos­ten­fak­tor gebrand­markt. Und um zu spa­ren, ver­sucht man, Leis­tun­gen zu kür­zen.
Zu sagen, dass Gesund­heit nichts kos­tet oder dass Gesund­heit gra­tis ist, ist ein roman­ti­scher Unsinn. Natür­lich ist Gesund­heit ein Kos­ten­fak­tor. Wenn es von der öffent­li­chen Hand finan­ziert wird, dann sind es oppor­tu­nity costs. Res­sour­cen sind nicht unbe­grenzt und aus dem Grund ist die Gesund­heit, so wie alles andere, in das wir inves­tie­ren, ein Kos­ten­fak­tor. Es geht aber nicht darum, Leis­tun­gen zu beschnei­den oder um Ein­spa­run­gen, das wäre völ­lig ver­fehlt, son­dern darum, intel­li­gent damit umzu­ge­hen. Es gibt ein rie­sig gro­ßes Poten­tial, sich ver­mehrt auf Out­co­mes, auf Qua­li­tät zu ori­en­tie­ren und das Ver­schwen­dungs­po­ten­tial aus­zu­mer­zen. Keine ein­zige Leis­tung in Öster­reich müsste zurück­ge­schnit­ten wer­den. Wir haben so viel Speck im System.

Und zwar wo?
Ich weiß gar nicht, wo ich da begin­nen soll. Das fängt schon an bei der Gesund­erhal­tung. Bei uns wird – im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern – unglaub­lich wenig für Prä­ven­tion und für Health Liter­acy und Anreiz­struk­tu­ren, sich auf den Erhalt von Gesund­heit zu kon­zen­trie­ren, inves­tiert. Wir sind ein Land der Repa­ra­tur­me­di­zin, sowohl von der Ein­stel­lung der Bür­ger her als auch von der Aus­rich­tung des Sys­tems. Wir haben eine der höchs­ten Ärzte-Dich­ten in Europa in der OECD. Wir haben ein Ver­tei­lungs­pro­blem und da muss man schauen, wel­che Anreiz­struk­tu­ren man benö­tigt, um die Ärzte dort­hin zu bekom­men, wo man sie braucht…

… wo ist anzu­set­zen?
Bei der Zahl der Kran­ken­haus­ein­wei­sun­gen haben wir die höchste Rate in Europa. Warum ist das so? Sind die Öster­rei­cher wirk­lich mehr hos­pi­ta­li­sa­ti­ons­be­dürf­tig als alle ande­ren Men­schen in Europa oder stimmt da irgend­et­was am Sys­tem nicht? Ich glaube, das Zweite ist der Fall. Wir wis­sen auch, was dahin­ter steckt, wie die Anreiz­struk­tu­ren sind. Die Gesund­heits­re­form will ja da zum Teil gewisse Dinge reka­li­brie­ren, aber das braucht ganz ordent­lich Ein­schnitte im Sys­tem. Es ist nicht so, dass wir allein da ste­hen und nicht wis­sen, was man tun könnte. Es gibt ver­schie­denste Ansätze in allen mög­li­chen Län­dern Euro­pas, die man adap­tie­ren kann für Öster­reich. Wir geben das meiste Geld aus in Europa, aber wir begnü­gen uns beim Ergeb­nis mit ‚middle of the road‘. Von 29 Län­dern sind wir auf Platz 14 oder 15, was die Ergeb­nisse betrifft. Da gibt es ein­fach viel zu tun mit Dise­ase Manage­ment-Pro­gram­men bei Dia­be­tes oder Hypertonus.

Die Wert­schöp­fung einer Bevöl­ke­rung hängt immer auch vom Gesund­heits­sta­tus ab. Also müsste der Staat eigent­lich daran inter­es­siert sein, dass die Men­schen gesund sind?
Es ist kein Geheim­nis, dass sich zum Bei­spiel inter­na­tio­nale Kon­zerne bei der Stand­ort­su­che auch die Gesund­heits­leis­tun­gen und den Gesund­heits­sta­tus der Bevöl­ke­rung anse­hen. Ich glaube, das ist auch längst eta­bliert, dass Gesund­heit eine Umwegs­ren­ta­bi­li­tät hat, dass eine gesunde Bevöl­ke­rung leis­tungs­fä­hi­ger ist. Umge­kehrt darf man auch nicht ver­ges­sen: Gesund­heit per se ist eine Indus­trie, einer der größ­ten Arbeit­ge­ber, die wir haben im Land.

Zur Per­son

Der gebür­tige Vor­arl­ber­ger Armin Fid­ler (Jahr­gang 1958) stu­dierte Medi­zin an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck und absol­vierte den Tur­nus in Bregenz. 

Anschlie­ßend absol­vierte er eine tro­pen­me­di­zi­ni­sche Aus­bil­dung am Bern­hard Nocht-Insti­tut in Ham­burg, bevor er in die USA ging.

Anfang der 1990er Jahre begann er an den CDC (Cen­ters for Dise­ase Con­trol) in Atlanta, wo er unter ande­rem als Epi­de­mic Intel­li­gence Offi­cer tätig war.

1993 wech­selte er nach Washing­ton D.C. zur Welt­bank, wo er seit 2008 Lead Advisor/​Health Policy and Stra­tegy bei der World Bank Group ist.

Fid­ler hat zahl­rei­che Zusatz­aus­bil­dun­gen absol­viert wie etwa einen Mas­ter of Public Health sowie einen Mas­ter of Sci­ence in Health Policy and Manage­ment – bei­des an der Har­vard Uni­ver­sity; ebenso ein Manage­ment and Finance-Cer­ti­fi­cate der Har­vard Busi­ness School.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 23–24 /​15.12.2014