Impfen: Anreiz ist besser als Zwang

10.06.2014 | Politik

Weil sich (zu) viele Menschen in Österreich nicht impfen lassen, gibt es keine Herdenimmunität. Urban Wiesing, Ethik-Experte an der Universität Tübingen, vermutet hinter diesem Verhalten auch ein Wohlstandsproblem. Er plädiert dafür, Anreizsysteme konsequent zu nutzen.
Von Marion Huber

Einer für alle, alle für einen“ – so könnte das Motto beim Impfen lauten. Denn mit der individuellen Entscheidung, sich impfen zu lassen, treffe jeder Einzelne gleichzeitig auch eine Entscheidung für die Allgemeinheit, betonte Prof. Urban Wiesing vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen bei einer Veranstaltung der Bioethikkommission kürzlich in Wien. Wiesing weiter: „Bislang gelingt es nicht, eine Herdenimmunität oder gar Eradikation von Krankheiten zu erreichen.“ Warum? Nicht etwa, weil es an Strukturen oder finanziellen Mitteln fehlt. Das Nutzenpotential werde nicht ausgeschöpft, weil „die Bevölkerung das Impfen vernachlässigt und teilweise ablehnt“, weiß der Ethik-Experte. Und dies, obwohl das Impfen bei einem guten Nutzen-Risiko-Verhältnis „außerordentlich erfolgreich und vergleichsweise günstig“ sei. Wiesing ortet großes Potential – und untermauert dies mit Zahlen: So geht etwa die WHO (Weltgesundheitsorganisation) davon aus, dass weltweit 4.000 bis 8.000 Todesfälle pro Tag durch Impfungen vermieden werden könnten.

Nutzen versus Schaden

Wem nützt das Impfen, wem schadet es? Dass Impfschäden – „auch wenn sie noch so selten sind“ (Wiesing) – grundsätzlich ungleich höher bewertet werden als der Nutzen ist für den Experten ein bekanntes Problem. „Am besten dran“ seien laut Wiesing Nicht-Geimpfte bei gegebener Herdenimmunität: Sie haben nur ein Restrisiko, zu erkranken und auch keine allfälligen Nebenwirkungen einer Impfung. Das Verhalten der Impfverweigerer – und deren Vorteile – limitieren sich aber von selbst, sagt der Experte: „Umso mehr ‚Trittbrettfahrer‘ es in der Bevölkerung gibt, umso schneller ist man unter der Schwelle der Herdenimmunität und das Risiko, zu erkranken, steigt wieder.“ Solche kategorische Impfgegner gebe es aber relativ wenige; die größte Gruppe lasse sich aus Desinteresse und Unwissenheit nicht impfen, meint Wiesing. Er vermutet hinter diesem Verhalten auch ein „Wohlstandsproblem“: Für die Menschen sei die Bedrohung durch eine Erkrankung heute nicht mehr präsent genug; der persönliche Anreiz, sich impfen zu lassen, werde immer geringer.

Dazu kommt beim Impfen auch der „Sonderfall Kind“: Die Eltern sollen zum Wohl ihres Kindes entscheiden. „Kindeswohl“ sei aber ein umstrittener Begriff. Wiesing verweist auf die Diskussionen rund um die Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen: „Welche Interpretationen des Kindeswohls darf man akzeptieren?“ Beim Impfen sei dies eine noch kompliziertere Frage, weil die Entscheidung nicht nur Folgen für das jeweilige Kind, sondern auch auf die Krankheitsverbreitung in der Gesellschaft hat.

Welche Maßnahmen sind nun erlaubt oder gar geboten, um den Gesamtnutzen zu optimieren? Wann darf der Staat sogar die Freiheit des Einzelnen und der Eltern einschränken? Weil Autonomie in europäischen Staaten grundsätzlich einen sehr hohen Stellenwert hat, sei der Eingriff in die Freiheitsrechte laut Wiesing nur gerechtfertigt, wenn

  • eine massive Gefährdung der Bevölkerung besteht;
  • das individuelle Risiko gering ist;
  • eine hohe Evidenz und ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis gegeben sind und
  • das Ziel auf andere Weise nicht erreicht werden kann.

Der letzte Punkt sei laut Wiesing entscheidend im Hinblick auf die Frage nach einem Zwang zur Impfung. Generell gebe es fünf Stufen von Impfempfehlungen – über abraten, empfehlen, Kostenübernahme bis hin zu Anreizen, auch nicht-monetärer Art. Erst Stufe 5 sehe eine gesetzlich vorgeschriebene Impfung vor. Wiesing dazu: „Solange nicht alle Stufen unter Stufe 5 ausgeschöpft sind und wir Anreizsysteme nicht konsequent nutzen, haben wir kein Recht auf Impfzwang.“ Denn in anderen Ländern wie etwa Finnland wurde eine Herdenimmunität auch ohne Impfzwang – durch proaktives Handeln der Politik, Information und Anreize für die Bevölkerung – erreicht, so der Experte: „Warum sollte es in Österreich dann nicht funktionieren?“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2014