Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung im altern­den Öster­reich: Ana­lyse, Trends und Perspektiven

25.11.2014 | Politik

Sei­nen ers­ten Vor­trag über Gesund­heit hielt der weit­hin als „Pen­si­ons­experte“ bekannte deut­sche Öko­nom Bert Rürup kürz­lich bei einer Ver­an­stal­tung in Wien. Sein Fazit: Man müsse sich mit einer altern­den Wohl­stands­ge­sell­schaft aus­ein­an­der­set­zen und: je bes­ser ein Sys­tem, umso höher die Lebens­er­war­tung und umso teu­rer wird das Sys­tem. Von Agnes M. Mühlgassner

Geschei­tert an der Dar­stel­lung der Finan­zie­rungs­ströme des öster­rei­chi­schen Gesund­heits­we­sens in einem Dia­gramm ist der deut­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ter Bert Rürup. Den­noch wagte der Pen­si­ons­experte einen Exkurs in die Gesund­heit und refe­rierte bei einer Ver­an­stal­tung der Ärz­te­kam­mer Wien kürz­lich über die „Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung im altern­den Öster­reich – die Gren­zen der Finanzierbarkeit“.

Dass auch er nicht wisse, was ein „opti­ma­les Gesund­heits­sys­tem ist“, stellte er gleich zu Beginn klar und: „Wer das behaup­tet, der lügt.“ Aber den Bes­se­rungs­be­darf könne man auf­zei­gen. Die Demo­gra­phie stellt der Experte an den Beginn sei­ner Aus­füh­run­gen, gefolgt von der Finan­zie­rung – Ver­glei­che mit Deutsch­land wer­den ange­stellt („Ich sage defi­ni­tiv nicht, dass Deutsch­land ein Vor­bild ist“) sowie den Fra­gen von Effi­zi­enz und Effek­ti­vi­tät und last but not least folg­ten Lösungsvorschläge.

Laut Rürup gibt es keine „Über­al­te­rung“, er spricht lie­ber von „Bevöl­ke­rungs­al­te­rung“ – und davon, dass wir einen demo­gra­phi­schen Wan­del erle­ben. Die demo­gra­phi­sche Ent­wick­lung – also die Alte­rung – hängt von der Gebur­ten­rate, der Lebens­er­war­tung und von der Zuwan­de­rung ab. Um die Bevöl­ke­rungs­zahl auf­recht zu erhal­ten, benö­tigt man 2,1 Gebur­ten pro Frau. Für Öster­reich liegt diese Rate bei 1,44 – „genau im euro­päi­schen Durch­schnitt“ (1,58). Spit­zen­rei­ter sind Frank­reich und Irland mit jeweils 2,01; Schluss­lich­ter Polen (1,30) und Por­tu­gal (1,28).

Bei der Lebens­er­war­tung fin­det Rürup „bemer­kens­wert“, dass diese von 1990 bis 2013 um 5,3 Jahre gestie­gen ist. Was bedeu­tet: Jedes heute neu gebo­rene Kind hat pro Tag eine um sechs Stun­den län­gere Lebens­er­war­tung. Davon zu unter­schei­den ist die fer­nere Lebens­er­war­tung: jene Lebens­er­war­tung, die man ab einem bestimm­ten Alter hat. Diese ist in den letz­ten Jah­ren durch­schnitt­lich um fast 1,7 Monate pro Jahr gestie­gen. Drit­ter Punkt: die Zuwan­de­rung, die in Öster­reich „enorm“ ist, wie Rürup sagt. Die Kon­se­quenz dar­aus: Trotz der nied­ri­gen Gebur­ten­rate wird die Bevöl­ke­rung sogar wach­sen; „inter­es­san­ter­weise“ werde auch der Anteil der unter 20-Jäh­ri­gen nicht abneh­men. Die Dia­gnose des Finanz­ex­per­ten Rürup: „Sie lei­den nicht so wie Deutsch­land an einer Unter­jün­gung.“ Auch eine andere Ent­wick­lung lässt sich vor­aus­sa­gen: In 40 Jah­ren, wenn die Ange­hö­ri­gen der Baby­boo­mer- Gene­ra­tion ver­stor­ben sind, spielt „die nied­rige Gebur­ten­rate von heute keine Rolle mehr“, sagt der Experte. Dann kämen die gebur­ten­schwa­chen Jahr­gänge; die Alte­rung selbst werde nur noch von der Zunahme der Lebens­er­war­tung getrie­ben; eine Ent­span­nung der Situa­tion ist die Folge.

„Inter­es­sant“ fin­det der Öko­nom den Ver­gleich zwi­schen Deutsch­land und Öster­reich hin­sicht­lich der Finan­zie­rung der lau­fen­den Gesund­heits­aus­ga­ben: ist der Steu­er­an­teil in Deutsch­land doch „sehr, sehr viel gerin­ger“, wäh­rend er in Öster­reich wesent­lich höher und auch deut­lich gestie­gen ist. Kon­kret: Wäh­rend der Steu­er­an­teil in Öster­reich 2004 noch bei 29,4 Pro­zent lag, stieg er auf 30,2 Pro­zent (2007) und 32,4 Pro­zent (2011). Völ­lig gegen­läu­fig der Trend in Deutsch­land: Hier ist der Steu­er­an­teil von einem an sich rela­tiv nied­ri­gen Niveau (7,7 Pro­zent im Jahr 2004) wei­ter gesun­ken: 2007 waren es 7,2 Pro­zent; 2011 dann 6,8 Prozent.

Wohl­stand erhöht Gesund­heits­aus­ga­ben

Stei­gen­der Wohl­stand bedeu­tet nicht unbe­dingt weni­ger Aus­ga­ben in Gesund­heit – räumt Rürup mit einem Vor­ur­teil auf: „In allen Län­dern stei­gen mit stei­gen­dem Wohl­stand die Gesund­heits­aus­ga­ben immer schnel­ler als das BIP.“ So ist von 1990 bis 2013 das BIP um rund 125 Pro­zent gestie­gen, wäh­rend sich die Gesund­heits­aus­ga­ben ver­drei­facht haben. Sieht man sich den durch­schnitt­li­chen Anstieg der Gesund­heits­aus­ga­ben in den OECD-Län­dern an, liegt Öster­reich leicht unter­halb eines Durch­schnitts­wer­tes, aber „doch mei­len­weit ent­fernt von Deutsch­land“, wo sie wesent­lich weni­ger gestie­gen sind. Über­trägt man dies jedoch auf die Pro- Kopf-Aus­ga­ben, sieht die Situa­tion wie­der anders aus: Hier liegt Öster­reich in Europa mit Aus­ga­ben von 4.593 Dol­lar an fünf­ter Stelle; knapp hin­ter Deutsch­land (pro Kopf-Aus­gabe: 4.723 Dol­lar. An der Spitze lie­gen Nor­we­gen (6.398 Dol­lar) sowie die Schweiz (6.080 Dol­lar). Schluss­lich­ter sind Grie­chen­land (2.380 Dol­lar) und Polen (1.443 Dol­lar) Rürup dazu: „Es gibt eine ganze Reihe von sehr viel rei­che­ren Län­dern, wo die durch­schnitt­li­chen Aus­ga­ben sehr viel nied­ri­ger sind.“

Sta­tio­nä­rer Bereich: größ­ter Kostenblock

Wofür wird das Geld im Gesund­heits­be­reich nun aus­ge­ge­ben? „Es fällt auf, dass der sta­tio­näre Bereich der größte Kos­ten­block ist. Das ist in Deutsch­land auch der Fall“, sagt der Experte. Unter­schiede gibt es bei der Ärz­te­dichte: Sie ist in Öster­reich höher als in Deutsch­land. Auch bei der Zahl der Kran­ken­haus­ent­las­sun­gen liegt Öster­reich vorne: Pro 100.000 Ein­woh­ner liegt sie bei 27.030 (zum Ver­gleich: 25.093 in Deutsch­land; Stand: 2012). Für Rürup ein „Dis­kus­si­ons- wür­di­ger, um nicht zu sagen: kri­tik­wür­di­ger Befund.“ Bei der Anzahl der Bet­ten pro 1.000 Ein­woh­ner (Öster­reich: 7,7; Deutsch­land: 8,3) werde Öster­reich von Deutsch­land „getoppt“; man habe „das glei­che Problem“. 

Ziele eines Gesund­heits­sys­tems sind laut Rürup die Erhö­hung der Lebens­er­war­tung bei gleich­zei­ti­ger Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät. Kos­ten­dämp­fung ist „kein Ziel“ der Gesund­heits­po­li­tik. „Die Kos­ten­re­strik­tion wird von der Finanz­po­li­tik fest­ge­setzt.“ Damit hät­ten sich Ärzte aus­ein­an­der­zu­set­zen. Worin der Finanz­ex­perte die Auf­gabe der Ärzte sieht? „Mit den extern zur Ver­fü­gung gestell­ten Mit­teln das Beste an Effi­zi­enz herauszuholen.“

Wel­che Per­spek­ti­ven, wel­che Lösungs­an­sätze zur Finan­zie­rung gibt es nun ange­sichts die­ses altern­den Öster­reichs? Der stei­gende Anteil der Pen­sio­nis­ten spielt eine wesent­li­che Rolle: Sie zah­len einen um ein Drit­tel gerin­ge­ren Bei­trags­satz; jedoch sind die Pro-Kopf-Aus­ga­ben für jeden Pen­sio­nis­ten dop­pelt so hoch im Ver­gleich zu den Aus­ga­ben für Erwerbs­tä­tige. Die Rech­nung des Exper­ten: Inklu­sive des von den Pen­sio­nis­ten auf­ge­brach­ten Steu­er­an­teils liegt deren Selbst­fi­nan­zie­rungs­an­teil knapp unter 30 Pro­zent (geht man von einem Pen­si­ons­al­ter von 65 Jah­ren aus). Da jedoch das durch­schnitt­li­che Pen­si­ons­al­ter bei 60 Jah­ren liegt, liegt der Selbst­fi­nan­zie­rungs­an­teil unter 25 Pro­zent. Die zwei mög­li­chen Kon­se­quen­zen: Ent­we­der schießt der Steu­er­an­teil „senk­recht“ (© Rürup) in die Höhe oder aber die Bei­trags­sätze. „So rich­tig nach­hal­tig ist das Sys­tem eigent­lich nicht“, urteilt Rürup. Da jedoch die Kos­ten der Bevöl­ke­rungs­al­te­rung real seien, könne man diese nur ver­tei­len. Der Finanz­wis­sen­schaf­ter dazu: „Jede Gesund­heits­re­form, jede Pen­si­ons­re­form ist ein Ver­tei­lungs­kom­pro­miss, der irgend­je­man­dem irgend­et­was wegnimmt.“

Den­noch gibt es laut Rürup zwei „Stell­schrau­ben“, an denen man dre­hen könnte: einer­seits das tat­säch­li­che Pen­si­ons­al­ter erhö­hen (was das Pen­si­ons­sys­tem und das Gesund­heits­sys­tem ent­las­ten würde) und eine Steu­er­erhö­hung. „Die per­fek­teste Steuer wäre die Mehr­wert­steuer – auch als Ant­wort auf die demo­gra­phi­schen Pro­bleme“, sagt Rürup. Auch Pen­sio­nis­ten zah­len Mehr­wert­steuer; eine Erhö­hung schä­dige nicht die inter­na­tio­nale Wettbewerbsfähigkeit.

Effi­zi­enz des ambu­lan­ten Systems

Wie in der inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur üblich ist bei der Mes­sung der Effi­zi­enz des ambu­lan­ten Sys­tems einer der „belieb­tes­ten Indi­ka­to­ren“ die Häu­fig­keit der ver­meid­ba­ren Kran­ken­haus­auf­ent­halte (ACSC: Ambu­la­tory Care Sen­si­tive Con­di­ti­ons). Dazu zäh­len drei Krank­heits­grup­pen: durch Imp­fung ver­meid­bare Erkran­kun­gen; akute Krank­heits­zu­stände, bei denen durch ent­spre­chende Pri­mär­ver­sor­gung eine Hos­pi­ta­li­sie­rung ver­mie­den wer­den hätte kön­nen sowie chro­ni­sche Erkran­kun­gen, die mit einer kon­ti­nu­ier­li­chen Pri­mär­ver­sor­gung zu weni­ger sta­tio­nä­ren Ein­wei­sun­gen füh­ren wür­den. Hier sieht Rürup „die eigent­li­chen Stell­schrau­ben“: zu ver­su­chen, mehr in den ambu­lan­ten Bereich hin­ein­zu­zie­hen. Nach­ge­dacht wer­den sollte auch dar­über, „den sta­tio­nä­ren Bereich bes­ser aus­zu­las­ten“ – etwa in Form von Wett­be­werb zwi­schen den Leis­tungs­an­bie­tern. Was ange­sichts von neun Kran­ken­kas­sen, „in denen man gefan­gen ist“, schwie­rig sei. Für die Kran­ken­kas­sen bestünde daher „kein beson­de­rer rich­ti­ger Antrieb, mit den Leis­tungs­bie­tern gute Deals auszuhandeln“.

Fazit des Exper­ten: „Wir müs­sen uns mit einer altern­den Wohl­stands­ge­sell­schaft aus­ein­an­der­set­zen. Je bes­ser das Sys­tem ist, desto höher wird die Lebens­er­war­tung und desto teu­rer wird das Sys­tem. Und des­halb müs­sen wir drin­gend dar­auf ach­ten, dass wir vor­han­dene Effi­zi­enz­re­ser­ven mobilisieren.“

Zur Per­son

Hans-Adal­bert „Bert“ Rürup wurde 1943 in Essen gebo­ren. Er stu­dierte wirt­schaft­li­che Staats­wis­sen­schaf­ten in Ham­burg und Köln; Pro­mo­tion 1971. Vier Jahre spä­ter über­nahm er eine Pro­fes­sur für Volks­wirt­schaft an der Uni­ver­si­tät Essen. Von 1976 bis zur Eme­ri­tie­rung 2009 war er Pro­fes­sor der Finanz- und Wirt­schafts­po­li­tik an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Darm­stadt. Seit 1988 hatte Rürup auch Gast­pro­fes­su­ren an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien, an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Buka­rest sowie an der Tech­ni­schen Hoch­schule Leipzig.

Seit 2010 ist Rürup Vor­sit­zen­der des Kura­to­ri­ums des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung in Ber­lin. Seit Jän­ner des Vor­jah­res lei­tet er als Prä­si­dent das Han­dels­blatt Rese­arch Insti­tute, ein unab­hän­gi­ges wis­sen­schaft­li­ches Kom­pe­tenz- und Rese­arch­cen­ter der Ver­lags­gruppe Handelsblatt.

Rürup ist Poli­tik­be­ra­ter mit Schwer­punkt Ren­ten­po­li­tik sowie Bera­ter der Bun­des­re­gie­run­gen in sozi­al­po­li­ti­schen Fra­gen. Im Jahr 2000 wurde er in den „Rat der Wirt­schafts­wei­sen“ (Sach­ver­stän­di­gen­rat zur Begut­ach­tung der gesamt­wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung) beru­fen. Von 2002 bis 2003 war er dar­über hin­aus Vor­sit­zen­der der soge­nann­ten „Rürup-Kom­mis­sion“, die Kon­zepte für eine nach­hal­tige Siche­rung des Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­tems erar­bei­ten sollte. In Öster­reich war Rürup von 1995 bis 1997 als Bera­ter der öster­rei­chi­schen Bun­des­re­gie­rung im Zuge der Vor­be­rei­tung der Pen­si­ons­re­form tätig.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2014