Psychoonkologie: Klinische Studien ausweiten

25.10.2014 | Medizin

Auch wenn nachgewiesen ist, dass der sozioökonomische Status das Gesamtüberleben nachweislich beeinflusst, werden Faktoren wie zum Beispiel Bildung, Einkommen, Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen in klinischen Studien derzeit nicht berücksichtigt.
Von Alexandra Schlömmer

Zunehmend wird die Frage diskutiert, welche psychischen Belastungen sich infolge einer Krebserkrankung entwickeln können und in welcher Form diese sich auf die Lebensqualität der Betroffenen oder auf medizinisch-klinische Aspekte auswirken können. „Der Effekt von Armut und Bildungsmangel auf das Überleben von Krebspatienten ist hinreichend belegt“, wie Univ. Prof. Alexander Gaiger von der Klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie am AKH Wien erklärt.

So ist ein niedriger sozioökonomischer Status mit einem weiter fortgeschrittenen Krankheitsstadium zum Zeitpunkt der Diagnose, einer weniger aggressiven Therapie und einer höheren „all cause mortality“ assoziiert. Verstärkt werden diese Faktoren durch ein jüngeres Alter (Alter <65), Arbeitslosigkeit, Invaliditätspension und fehlende soziale Netzwerke. „Werden in der statistischen Untersuchung Faktoren wie Komorbidität, Krankheitsstadium zum Zeitpunkt der Diagnose, Therapie und ethnische Zusammensetzung des jeweiligen Landes berücksichtigt, wird der Effekt des sozioökonomischen Status auf das Gesamtüberleben zwar abgeschwächt, bleibt aber trotzdem signifikant bestehen“, führt der Onkologe weiter aus.

Kaum berücksichtigt: Armut und Bildungsmangel

Welche Faktoren beeinflussen nun das Gesamtüberleben? Während in den USA die finanzielle Armut im Vordergrund steht, ist es in Nord- und Mitteleuropa vor allem die Bildungsarmut. Trotz dieser Evidenz werden Armut und Bildungsmangel in der klinischen Praxis und im Studiendesign kaum – besonders aber nicht im Rahmen von evidenzbasierten Behandlungsalgorithmen – berücksichtigt. Gaiger dazu: „Als Begründung wird immer angeführt, dass man diese Faktoren nicht beeinflussen kann.“

Beim Management von Krebserkrankungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt zwar große Fortschritte erzielt, gleichzeitig sind neue Herausforderungen zu bewältigen: zunehmende Ungleichheiten im globalen und nationalen Maßstab beim Zugang zu Diagnose und Behandlung, Bevölkerungswachstum sowie das Älterwerden der Gesellschaft ganz generell. Die Herausforderungen für das Gesundheitswesen im Bereich der Onkologie sieht Gaiger vor allem in folgenden Bereichen:

  • Bedingt durch die soziodemographische Entwicklung nimmt die Zahl der neudiagnostizierten Krebserkrankungen zu.
  • Durch die Fortschritte in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation nimmt die Zahl der Menschen, die geheilt oder mit einer chronischen Krebserkrankung leben, ebenfalls weiter zu.
  • Wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen binden zunehmend knappe menschliche Ressourcen mit Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben.

Der Einfluss von sozioökonomischen Faktoren – insbesondere Bildung und Einkommen – auf das Überleben von Krebspatienten ist durch eine große Zahl von klinischen und epidemiologischen Studien belegt. Bedingt durch die demographische Entwicklung und den Fortschritt der modernen Medizin zeigt sich soziale Ungleichheit als Ursache für gesundheitliche Ungleichheit durch die Einflussnahme auf Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Dennoch wird der sozioökonomische Status nicht in medizinische Entscheidungs- und Behandlungsabläufe oder in klinisches Studiendesign integriert. Gaiger sieht jedoch eine „medizinische Notwendigkeit“, das zu ändern.

Univ. Prof. Gerhard Schüßler von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck erläutert die Möglichkeiten der Psychoonkolgie: „Als angewandte Disziplin bietet sie dem krebskranken Menschen eine spezielle psychotherapeutische Behandlung an, die zusätzlich hilfreich sein kann, um die Erkrankung besser zu überstehen, sich Lebensqualität zu bewahren und vielleicht auch wieder gesund zu werden.“ Gaiger ergänzt: „Sie trägt im Rahmen der onkologischen Rehabilitation zur Reintegration in den beruflichen und sozialen Alltag bei.“ Ist die Diagnose Krebs gestellt, müssen alle psychischen und sozialen Möglichkeiten genützt werden, um auch die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Und weiter: „Die Psychoonkologie unterstützt nachweislich die Fähigkeit und Ressourcen der Patienten und ihrer Angehörigen, mit der Krankheit fertig zu werden.“ Schüßler ergänzt: „Ziel ist die Erhaltung beziehungsweise Verbesserung der Lebensqualität sowie Unterstützung und Hilfe bei der Krankheitsbewältigung.“ Eine weitere Aufgabe der Psychoonkologie liege auch darin, den Betroffenen in und mit seinem familiären und sozialen Umfeld zu unterstützen. „In einem modernen Behandlungskonzept in der Onkologie sollte die psychoonkologische Betreuung daher unverzichtbarer Bestandteil sein“, lautet das Resümee von Schüßler.

Weswegen er sich auch wünscht, dass „Hausärzte Patienten zur Psychotherapie zuweisen und auf die Möglichkeit der onkologischen Rehabilitation hinweisen“. Gaiger ergänzt: „Eine besondere Aufgabe besteht darin, die Krebserkrankung zu entmystifizieren. Wichtig sind Klarheit, Sachlichkeit, detaillierte Informationen über die nächsten Schritte sowie das Thematisieren der Mythen der Krebserkrankung.“ Auch können Risikofaktoren für den weiteren Krankheitsverlauf, insbesondere solche, die Komorbiditäten, Compliance/Adhärenz und Resilienz betreffen, abgeklärt werden: soziale Faktoren wie Armut, Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit, psychische Faktoren wie vorbestehende psychiatrische Erkrankungen, Depressivität und körperliche Faktoren wie Blutarmut. „Psychosoziale Einflussfaktoren in medizinischen Entscheidungsabläufen nicht zu berücksichtigen, hat zur Folge, dass soziale Unterschiede weiter verstärkt werden und wir in Bewegungsstudien bei Krebs eine Tautologie einführen“, so Gaiger. Demnach würden vorwiegend solche Patienten rekrutiert, die Bedingungen für einen ‚gesunden‘ Lebensstil erfüllen, oft schon vorher einen ‚sportlichen‘ Lebensstil hatten. Diese Personen verfügten über eine mittlere beziehungsweise höhere Bildung und Einkommen, wiesen einen geringeren BMI auf, hätten soziale Netzwerke, ein aktives Problem-orientiertes Coping sowie keine psychiatrischen Vor- oder Begleiterkrankungen. Die Forderung von Gaiger: „Basierend auf der Evidenz, dass psychosoziale Faktoren den Krankheitsverlauf beeinflussen, ist zu fordern, dass diese Einflussgrößen wie zum Beispiel Bildung, Einkommen, Depression usw. in klinischen Studien berücksichtigt werden.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2014