Polio: Schwachstelle Durchimpfung

25.11.2013 | Politik

Auf den Zusammenbruch der Infrastruktur ist der Polio-Ausbruch in Syrien, wo sie eigentlich als eradiziert galt, zurückzuführen. Eine unmittelbare Gefahr für Europa sieht die WHO nicht. Doch Österreich hat ein viel gravierenderes Problem: die fehlende Auffrischung im Erwachsenenalter.
Von Barbara Wakolbinger

Mitte Oktober 2013 wird in der Provinz Deir Al Zour in Syrien ein Cluster von Fällen von akuter schlaffer Lähmung gemeldet, Ärzte und Behörden sind alarmiert. Wenig später können zehn der Fälle tatsächlich als WPV1 (Wildtyp-Poliovirus Typ 1)-Poliomyelitis identifiziert werden: Die Betroffenen sind zum großen Teil kleine, meist ungeimpfte Kinder.

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien ist die Durchimpfungsrate dramatisch gesunken: Lag sie vor wenigen Jahren noch bei über 90 Prozent, schätzen Experten sie nun auf knapp 70 Prozent. „Das halte ich für eine sehr optimistische Schätzung. Vermutlich muss man eher von nur 50 Prozent ausgehen“, meint Univ. Prof. Herwig Kollaritsch, Leiter der Forschungseinheit Epidemiologie und Reisemedizin an der Medizinischen Universität Wien. Syrien und dessen Nachbarländer haben sofort reagiert: Die syrische Regierung plant eine groß angelegte Impfkampagne. Auch in den Nachbarländern, in denen viele syrische Flüchtlinge untergekommen sind, wird nun geimpft. Doch bis diese Kampagnen greifen, wird es dauern. In Syrien selbst wird die Lage durch die andauernden Kampfhandlungen, die kaum ein systematisches Vorgehen erlauben, verschärft. „Von den aktuellen Polio-Fällen sind hauptsächlich kleine Kinder betroffen. Das spricht stark dafür, dass die Verbreitung tatsächlich auf den Zusammenbruch der Infrastruktur in Syrien zurückzuführen ist“, erläutert der Experte. Polio gilt heutzutage als weitgehend eliminiert – politisch instabile Länder sind jedoch immer wieder gefährdet: Afghanistan, Pakistan oder Nigeria gelten als polioendemisch.

„Im Nahen Osten wird sich das Wildtyp-Poliovirus Typ 1 noch ein bisschen ausbreiten. In der gegenwärtigen Situation schätzen WHO und das European Centre for Disease Prevention and Control das Risiko einer Re-Importation nach Europa als sehr, sehr gering ein“, meint Kollaritsch. Vor allem aufgrund von Flüchtlingsbewegungen ist es zwar möglich, dass Polio-Viren nach Europa oder auch Österreich gelangen. Eine Gefährdung für Österreich sieht Kollaritsch aber aus mehreren Gründen kaum. Einerseits schützt die gute Durchimpfungsrate, andererseits kann Österreich auch auf eine intakte Polio-Überwachung zählen. „Wir haben auch Glück, dass der Winter kommt“, meint der Experte. Denn im Gegensatz zu anderen Viren verträgt Polio keine Kälte, ausgeschiedene Viren überleben deutlich kürzer. Zusätzlich profitiert Österreich von einer ausgezeichneten Infrastruktur – auch bei der Abwasserentsorgung. Eine Kontamination der Lebensmittelkette durch Fäkalpartikel ist dadurch praktisch völlig ausgeschlossen. Neben dem unmittelbaren Haushaltskontakt mit einem Infizierten ist die nicht einwandfreie Trennung zwischen Nutz- beziehungsweise Trinkwasser und Abwasser der wichtigste Verbreitungsweg des Virus.

Eine Schwachstelle hat Österreich jedoch: die Durchimpfung. Denn nur im Kleinkindesalter ist sie mit deutlich über 90 Prozent sehr gut. „Wir haben keine ganz genauen Zahlen, da wir uns nur an den ausgelieferten Dosen orientieren können. Aber gerade die Sechsfach-Impfung bei Kleinkindern zählt zu den am besten akzeptierten Impfungen und die hat eine Polio-Komponente“, schildert Kollaritsch. Problematisch wird es dann im Erwachsenenalter. Immer wieder zeigen Studien, dass der Österreicher nach dem Ende der Schulpflicht kaum mehr eine Impfung auffrischen lässt. „Daran krankt es in Österreich momentan“, betont der Impf-Experte. Zwar hält die Impfung mit inaktiviertem Polio-Virus bei den vier oder fünf Polioauffrischungen, die man bis zur Matura erhält, ungefähr 20 Jahre. „Dann muss man aber schon damit rechnen, Lücken zu haben“, warnt Kollaritsch. Im Zeitraum von 2010 bis 2012 hat er eine Erhebung bei Erstkunden des Zentrums für Reisemedizin durchgeführt: „Wir haben gesehen, dass fast die Hälfte von rund 1.300 erwachsenen Österreichern keine gültige Dokumentation im Hinblick auf Diphtherie-Tetanus- Pertussis-Polio hat. Das ist sehr schwach.“

Vermehrt Pertussis-Fälle

Nicht nur Polio kann so an den Grenzen Europas wieder zum Problem werden, in den letzten Jahren tauchen auch vermehrt Fälle von Pertussis bei Erwachsenen auf. Auch in einer „Lancet“-Publikation scheint Österreich neben Bosnien-Herzegowina und der Ukraine mit einer nicht gut dokumentierten Impfrate in der Liste der „mittelgradig gefährdeten“ Länder auf. Nicht nur Reisende in Endemiegebiete und Personen, die mit Flüchtlingen arbeiten, sollten daher dringend an die Auffrischung ihres Impfschutzes denken. Auch Pilgerreisende nach Mekka sollten ihren Polio- Impfschutz aktualisieren.

Wer den Polioausbruch in Syrien verstehen will, muss die Suche jedoch weitaus früher beginnen. Ab Mai dieses Jahres wurden zunächst in Somalia insgesamt 174 Polio-Fälle gemeldet. Das Virus breitete sich im Folgenden über das Horn von Afrika aus; in Somalia, Kenia, Äthiopien und im Süd-Sudan wurden jeweils Einzelfälle registriert. „Das ist aber nur die Spitze des Eisberges“, erklärt Kollaritsch. Denn nur einer von rund 200 Polio-Infizierten erkrankt manifest. „Das bedeutet, um 170 klinische Fälle zu sehen, müssen mindestens 30.000 Menschen infiziert worden sein.“

Israel: Polioviren im Abwasser

Seit Jahren werden am Horn von Afrika auch regelmäßig Impfkampagnen durchgeführt – die Viruszirkulation könnte daher weitaus größer sein, ohne dass die Behörden es merken. Parallel zum Ausbruch in Afrika fanden Wissenschafter in Israel – vor allem im Westjordanland und im Gazastreifen – das Wildtyp-Poliovirus Typ 1 in Abwasserproben; zusätzlich waren bei Stuhlproben in der Bevölkerung 4,4 Prozent der Proben positiv. Dabei handelt es sich genetisch um dasselbe Virus, das schon 2012 in den Abwässern von Kairo gefunden wurde. „Es ist also tatsächlich zu einer längeren Zirkulation des Virus gekommen – nur ohne Erkrankungen“, so Kollaritsch. Denn Israel weist mit über 94 Prozent einen hohen Durchimpfungsgrad auf. Allerdings wird – ebenso wie in Österreich – mit einem inaktivierten Polio-Impfstoff geimpft. „Damit kann ich eine Einzelperson sehr gut schützen, verhindere aber nicht dauerhaft, dass die Person bei einer Infektion Viren ausscheidet und so zum Multiplikator werden kann.“ Die inaktivierte Impfung hat jedoch auch einen großen Vorteil: kaum Nebenwirkungen.

Am Horn von Afrika laufen bereits erfolgreiche Impfaktionen; die Situation dort scheint wieder unter Kontrolle. Kollaritsch rechnet auch mit einer baldigen Besserung der Situation im Nahen Osten: „Die Behörden haben rasch und effizient reagiert. Einen Polio-Ausbruch nehmen wirklich alle ernst.“

Zu solchen Ausbrüchen wird es immer wieder kommen. 99,9 Prozent der Poliogebiete sind den Aussagen von Kollaritsch zufolge mittlerweile „sauber“. „Das letzte 0,1 Prozent macht uns nachhaltig zu schaffen.“ Solange es noch politisch instabile endemische Herde gibt und Gruppen, die von dort aus in der ganzen Welt agieren, rückt sogar die Elimination der Polio in weite Ferne – von der Eradikation ganz zu schweigen …

Polio-Überwachung in Österreich

Ebenso wie alle anderen europäischen Staaten auch, muss Österreich durch aktive Überwachungsmaßnahmen nachweisen, dass kein Polio-Wildvirus in der Bevölkerung zirkuliert. Das wird durch die Nationale Referenzzentrale für Polio (NRZP) kontrolliert, der im Zuge der Surveillance von akuten schlaffen Lähmungen (AFP; acute flaccid paralysis) jede derartige Erkrankung bei Kindern bis zum vollendeten 15. Lebensjahr gemeldet wird. Seit 1998 sind mehr als 40 Pädiatrische und Neurologische Abteilungen in Österreich in dieses Surveillance-System eingebunden. In den Jahren 2011 und 2012 wurde jeweils ein Fall einer akuten schlaffen Lähmung gemeldet; anhand von Stuhlproben konnte jedoch eine Poliomyelitis ausgeschlossen werden. Damit liegt Österreich allerdings unter der zu erwartenden Inzidenz von einem Fall einer akuten schlaffen Lähmung pro 100.000 Kindern pro Jahr, was auf nicht durchgeführte Meldungen hinweisen könnte.

Die Nationale Referenzzentrale für Polio übernimmt außerdem die Koordination des epidemiologischen Netzwerkes für Enteroviren. Unter den isolierten Stämmen fanden sich in den vergangenen Jahren keine Polio-Viren.

Quelle: AGES (Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2013