Gesundheitsversorgung in den USA: Zankapfel Medicaid

10.05.2013 | Politik


Mehr Staat bei der Gesundheitsversorgung lautet eine zentrale Devise der Gesundheitsreform von Barack Obama. Im Zuge dessen wird Medicaid, das staatliche Programm für sozial Schwache, ausgeweitet. Washington stellt dafür in den nächsten zehn Jahren fast eine Billion Dollar zur Verfügung – weswegen nun auch einige der heftigsten Gegner der Reform einlenken.
Von Nora Schmitt-Sausen

Schritt für Schritt geht das Mammutprojekt Gesundheitsreform in den USA voran. Nach der Diskussion um den Aufbau der regionalen Online-Märkte zum Erwerb von Policen (Health Insurance Exchange) geht es aktuell um die zweite große Säule von Obamacare: die Ausweitung des Medicaid-Programms. Darüber wird auf lokaler Ebene die Gesundheitsversorgung für sozial schwache US-Bürger organisiert. Obama hatte ursprünglich vor, die Ausweitung für die Bundesstaaten verpflichtend zu machen. Doch der Supreme Court hat es den Bundesstaaten in seinem Urteil zur Reform frei gestellt, ob sie das Programm ausweiten oder nicht. Niemals gingen sie diesen Schritt mit, posaunten die Konservativen nach dem Urteilsspruch lautstark. Doch im Frühjahr 2013 werden die Gegenstimmen leiser.

Der Widerstand der Gouverneure ist im Falle von Medicaid überraschender Weise nicht so groß wie beim Ausbau der Online-Märkte, gegen die zahlreiche republikanische Gouverneure ihr Veto eingelegt hatten. Selbst einige der Republikaner, die an vorderster Front den juristischen Kampf gegen Obamacare geführt hatten, lenken nun ein. Jüngst wechselte gar Rick Scott, einflussreicher republikanischer Gouverneur von Florida, die Seite. Er galt als einer der härtesten Widersacher der Reform, seine politische Karriere fußt auf drastischen Anti-Obamacare-Parolen. Nun der Schwenk: Er könne es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, den „ärmsten und schwächsten Bewohnern Floridas“ den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verweigern, sagte Scott in einem überraschend emotionalen Statement Ende Februar dieses Jahres. Dieser plötzliche Sinneswandel könnte für bis zu einer Million von bislang unversicherten Bürgern Floridas den Zugang zum Gesundheitswesen bedeuten.

Massiver Druck auf Akteure

Das Einlenken von Scott und anderen Republikanern erfolgt weniger wegen Patientenverbänden, sondern vielmehr auf massiven Druck von Akteuren des Gesundheitswesens. In Florida haben sich beispielsweise die Krankenhäuser dafür stark gemacht, dass die staatliche Versorgung ausgeweitet wird. Sie erwarten einen neuen Patientenstrom und damit Mehreinnahmen. Allerdings: Ohne Kuhhandel gibt es das ‚Ja‘ nicht: Florida und mehrere weitere Bundesstaaten wollen nicht schlicht den Schirm des klassischen Medicaid-Programms größer spannen. Sie wollen die sozial Schwachen stattdessen über die neuen Online-Märkte in das System holen und ihnen den Erwerb von subventionierten Policen ermöglichen. Das Geld dafür soll aus Washington kommen. Die Regierung Obama steht der Idee – trotz lauter Kritik – offen gegenüber, solange dadurch das Ziel erreicht werden kann, mehr US-Bürgern den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Die Gespräche mit mehreren Bundesstaaten über die Details einer solchen Alternative laufen.

Dass die strikte Opposition von einigen republikanischen Bundesstaaten in den vergangenen Wochen gebröckelt ist, hat einen guten Grund. Washington trägt die Kosten für die Medicaid-Ausweitung in den ersten drei Jahren zu 100 Prozent. Selbst danach kommen auf die Landesregierungen nur maximal zehn Prozent zusätzliche Kosten zu. Insgesamt stellt Washington in den nächsten zehn Jahren fast eine Billion Dollar zur Verfügung, um mehr Menschen unter den staatlichen Versorgungsschirm zu holen. Von diesem großen Kuchen wollen nun auch einige von den konservativsten aller Konservativen etwas abhaben.

Doch auch das ist in den USA weiter Realität: Noch immer stellen einige republikanische Köpfe ihre Ideologie über die Bedürftigkeit ihrer Bevölkerung. An vorderster Front der unverminderten Nein- Sager steht Rick Perry, Kontrahent von Mitt Romney im Kampf um die republikanische Präsidentschaftskandidatur. Der Gouverneur von Texas bleibt bei seinem strikten ‚Nein‘ zur Ausweitung. Er werde Medicaid „nicht sozialisieren“, das Programm sei kaputt, unterfinanziert und bedürfe einer Reform. „Von all den schlechten Ideen, die im Zusammenhang mit Obamacare stehen, ist es die schlechteste, auf Medicaid zu setzen, um die schwere Bürde zu tragen, Amerikas Unversicherte zu versichern“, schrieb Perry Ende März 2013 in einem Gastbeitrag in der Zeitung ‚USA Today‘. Die Weigerung von Perry hat besonderes Gewicht: Texas hat die höchste Zahl an Unversicherten in den USA. Nach offiziellen Angaben sind 24 Prozent – also insgesamt sechs Millionen Menschen – nicht versichert.

Medicaid

56 Millionen US-Amerikaner beziehen Gesundheitsleistungen über Medicaid, das 1964 ins Leben gerufen wurde. Medicaid ist – gemessen an der Zahl der Empfänger – das größere der beiden staatlichen Gesundheitsprogramme. Zum Vergleich: Über die Seniorenversicherung Medicare sind 48 Millionen US-Bürger versichert. Neben sozial Bedürftigen und Behinderten sind auch viele alte Menschen im Medicaid-Programm. Es sind überwiegend Senioren, die in Pflegeheimen untergebracht sind und die Kosten der Pflege nicht tragen können. Unter dem Dach von Medicaid sind im Zuge des Children’s Health Insurance Program (CHIP) seit 1997 zudem gut acht Millionen Kinder bis 19 Jahre versichert. Sie leben in Familien, die bislang zu viel verdienen, um selbst Zugang zu Medicaid zu finden, aber zu wenig Geld haben, um sich eine private Versicherung leisten zu können. Grundsätzlich teilen sich die Zentralregierung in Washington und die Bundesstaaten die Kosten für Medicaid; je nach Finanzkraft des Bundesstaates variiert der Anteil von Washington.

Die Bemessungsgrenze für die Aufnahme in das staatliche Krankenversicherungsprogramm ist von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. In der Regel greift der Medicaid-Schutz bislang, wenn eine vierköpfige Familie über weniger als 22.350 Dollar im Jahr verfügt. Ab 2014 dürfte eine vierköpfige Familie bis zu 29.700 Dollar Jahreseinkommen haben und wäre dennoch für die staatliche Unterstützung qualifiziert. Einzelpersonen dürften maximal 15.856 Dollar verdienen, um Versorgungsanspruch zu haben. Fast die Hälfte der mehr als 30 Millionen unversicherten Amerikaner soll durch diesen Schritt Zugang zur Gesundheitsversorgung finden.

Die Bundesstaaten haben es zum Teil selbst in der Hand, welche Versorgung sie über Medicaid abdecken. In Zeiten der besonders schwachen US-Konjunktur, als einige Staaten zusätzlich Bürger in Medicaid aufnehmen mussten, aber gleichzeitig weniger Geld in die Staatskasse kam, haben viele Regierungen die Versorgungsleistungen herabgesetzt. In vielen Bundesstaaten wird beispielsweise der Zahnarztbesuch nicht mehr abgedeckt. Auch Ärztehonorare wurden vielerorts herabgesetzt, obgleich die Regierung Obama versucht, speziell dieser Entwicklung gegenzusteuern. Washington hat in den vergangenen Jahren mehrere Millionen Dollar freigegeben, um finanzschwache Bundesstaaten bei der Finanzierung von Medicaid zu unterstützen.

Medicaid ist seit einigen Jahren ein ständiger politischer Zankapfel zwischen Republikanern und Demokraten. In den Debatten um die hohe Staatsverschuldung der USA bringen die Konservativen Reformen und Kürzungen immer wieder auf den Tisch. Bislang zeigte sich Obama jedoch unnachgiebig, über Einsparungen bei Medicaid zu verhandeln. Auch beim jüngsten Poker um den Staatshaushalt blieb Medicaid – genauso wie die beiden anderen großen Staatsprogramme Medicare und Social Security (US-Rentenwesen) – von Kürzungen nahezu unberührt, obwohl sie in erheblichen Maßen zum schwachen Staatshaushalt der USA beitragen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2013