Leitlinien: Gerüst, nicht Korsett

10.06.2013 | Politik


Leitlinie und Richtlinie – die Unterscheidung zwischen den beiden erfolgt oft nicht genau. Während eine Leitlinie jedoch empfiehlt, fordert eine Richtlinie normativ. Sollte der Arzt von der Leitlinie abweichen, ist im Sinn der „Sorgfalt in eigener Sache“ die Dokumentation der Gründe aber in beiden Fällen ratsam.
Von Marion Huber

Grundsätzlich gilt, dass eine Leitlinie empfiehlt, während eine Richtlinie normativ fordert“, wie Rita Maria Offenberger, Juristin des Referats Leitlinien in der ÖÄK, erklärt. Leitlinien sind – im Gegensatz zu verbindlichen Richtlinien – definiert als Entscheidungshilfen zur adäquaten Vorgehensweise bei einer bestimmten Erkrankung beziehungsweise Patientengruppe. Sie sollen keine starre Vorschrift, sondern Empfehlungen sein, von denen der Arzt in begründeten Fällen abweichen kann. Die oft geäußerte Kritik, wonach Leitlinien den Entscheidungsspielraum von Ärzten einengen, kann Herbert Stekel, Vorstand des Zentrallabors am AKH Linz, nicht nachvollziehen: „Ich habe jederzeit die Freiheit, eine Leitlinie zu verlassen, so ich es begründen kann. Sie engt genauso wenig ein, wie mich ein Navigationssystem im Auto daran hindert, woanders abzubiegen als vorgeschlagen.“ Auch Brigitte Ettl, Referentin für Leitlinien und Patientensicherheit der ÖÄK, sieht Leitlinien keineswegs als Einschränkung, sondern als „absolut notwendiges Instrument in der ärztlichen Tätigkeit“. Ein Punkt, der laut der ärztlichen Direktorin des Krankenhauses Hietzing in Wien bei der Diskussion um Leitlinien oft übersehen wird: deren Bedeutung für die Ausbildung und Fortbildung von Ärzten. Ettl dazu: „Sie dienen in der Praxis als Gerüst, an dem man sich anhalten kann.“

Was droht beim Verstoß gegen eine Richtlinie, was, wenn man von einer Leitlinie abweicht? Die Sanktion bei einer Richtlinie hänge davon ab, auf welcher Ebene sie normativen Charakter bekommen habe, wie Offenberger erklärt. Gibt etwa der Dienstgeber eine Richtlinie vor, sind bei einem Verstoß dienstrechtliche Sanktionen vorgesehen – was aber nicht heißt, dass man sich automatisch auch berufsrechtlich verantworten muss, so die Juristin weiter. Im Verhältnis zwischen Dienstrecht und Berufsrecht gilt, dass man dem Dienstrecht so lange Folge leisten muss, wie es das Berufsrecht erlaubt, so Offenberger: „Wird etwas angeordnet, das nicht lege artis ist, darf dem berufsrechtlich nicht Folge geleistet werden.“

In jedem Fall sei die Dokumentation von entscheidender Bedeutung: „Weicht man von Richtlinien mit normativem Gehalt ab, etwa aus Gründen des Berufsrechts, und dokumentiert man, warum, kann das zum Haftungsausschluss führen.“ Obwohl Leitlinien an sich unverbindlich sind, rät die Juristin auch hier zur Dokumentation: „Wenn eine Leitlinie einen so hohen Evidenzgrad hat, dass sie den lege artis-Stand wiedergibt, gebietet es die ‚Sorgfalt in eigener Sache‘, ein Abweichen auch hier zu dokumentieren.“ Als Hilfsmittel, um den Grad der Evidenz festzustellen, empfiehlt sie beispielsweise das anerkannte Bewertungsschema DELBI (Deutsches Leitlinien-Bewertungsinstrument). Demnach bieten S3-Leitlinien die höchste Qualitätsstufe der Methodik und sind damit das „Krönungsstück“ (Ettl).

Bundesqualitätsleitlinie ist Empfehlung

So viel zu medizinischen Leitlinien. „Ein anderes Paar Schuhe“ sind laut Offenberger die im Gesundheitsqualitätsgesetz (GQG) geforderten Bundesqualitätsleitlinien und Bundesqualitätsrichtlinien. Bundesqualitätsrichtlinien (BQRL) sind durch Verordnung des Gesundheitsministers erlassene, verbindlich gemachte Standards. Wer dagegen verstößt, begeht laut § 10 des Gesundheitsqualitätsgesetzes – sofern nicht eine gerichtlich strafbare Tat vorliegt – eine Verwaltungsübertretung, die mit einer Verwaltungsstrafe bis Euro 10.000,– und im Wiederholungsfall bis Euro 20.000,– zu bestrafen ist. „Aber eine Bundesqualitätsrichtlinie ist noch nicht erlassen“, fügt die Juristin hinzu. Eine Bundesqualitätsleitlinie (BQLL) hingegen soll für den behandelnden Arzt eine Entscheidungshilfe sein und hat „ausdrücklich Empfehlungscharakter“, so Offenberger.

In Sachen Bundesqualitätsleitlinien weise die ÖÄK immer darauf hin, dass deren medizinische Inhalte nach dem Standard von medizinischen Leitlinien erstellt und bestehende medizinische Leitlinien einbezogen werden sollen, betont Offenberger. „Wogegen wir uns aussprechen, ist, medizinische Themen als Bundesqualitätsleitlinie herauszugreifen.“ Bei allen Qualitätsstandards gemäß Gesundheitsqualitätsgesetz sei eine wesentliche Forderung der ÖÄK, dass nach Durchlaufen des vorgesehenen Verfahrens jedenfalls eine ausreichende Testphase in Pilotregionen erfolgt; diese müsse auch evaluiert werden. Die Juristin dazu: „Diese dringende Forderung ist auch in die aktuelle Fassung der Metaleitlinie für Qualitätsstandards übernommen worden.“

Expertise von Ärzten

Bei der Entstehung von Leitlinien sieht auch Stekel einen Knackpunkt: „Wir sehen im Labor immer wieder nicht 100-prozentig sauber erstellte Leitlinien. So werden zum Beispiel in der Leitlinie für die Diagnostik von Pankreaskarzinomen bestimmte Laboranforderungen gestellt, die offensichtlich ohne Laborärzte entstanden sind. Sonst könnte darin keine Anforderung stehen – in dem Fall Tumormarker-Nachweis aus Aszites – für die es weltweit keinen zugelassenen Test gibt.“ Daher seine Forderung: Leitlinien sind – ganz nach deutschem Vorbild – eine „Sache der medizinischen Fachgesellschaften“. Stekel weiter: „Dort gehören sie hin, denn nur dort ist die nötige Kompetenz vorhanden!“ Das gelte auch für Bundesqualitätsleitlinien: Sie könnten nur in Zusammenarbeit mit Ärzten entwickelt werden, ist Ettl überzeugt: „Auch deren Kernstück ist eine medizinische Leitlinie. Und es ist keine Frage, dass medizinische Leitlinien nur von Ärzten erarbeitet werden können. Das wird auch in Zukunft nicht anders möglich sein.“

Richtlinien versus Leitlinien

Richtlinien haben normativen Charakter; ein Verstoß hat etwa dienstrechtliche oder berufsrechtliche Sanktionen zur Folge.

Leitlinien sind von medizinischen Fachgesellschaften entwickelte Orientierungshilfen für die Diagnose und Therapie bei einer speziellen Erkrankung/Patientengruppe. Leitlinien sind Empfehlungen, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann.

Im Sinn der ‚Sorgfalt in eigener Sache‘ sind die Gründe für ein Abweichen bei Richtlinien und Leitlinien zu dokumentieren.

Davon zu unterscheiden sind die im Gesundheitsqualitätsgesetz (GQG) geforderten Bundesqualitätsrichtlinien (BQRL) und Bundesqualitätsleitlinien (BQLL). Erstere sind vom Gesundheitsministerium durch Verordnung erlassen und verbindlich; bei einem Verstoß droht – sofern nicht eine gerichtlich strafbare Tat vorliegt – eine Verwaltungsstrafe. Letztere sind lediglich Empfehlungen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2013