Kommentar – Univ. Prof. Alfred Springer: Substitution in der Praxis

25.03.2013 | Politik


Im Zuge der Neuregelung der Substitutionstherapie mittels Verordnung wurde 2005 eine „first line“-Empfehlung der eingesetzten Substanzen abgegeben. Anlass war eine Auseinandersetzung zwischen Ärzten und anderen Berufsgruppen, die mit der Behandlung von suchtkranken Personen befasst sind. Dieser österreichische Weg wird nun neuerlich in Frage gestellt.
Von Alfred Springer*

An der ärztlichen Verschreibepraxis bei der Behandlung von Suchtkranken wird von neuem Kritik geübt. Die verschreibenden Ärzte werden etwa vom Journalisten einer österreichischen Tageszeitung ermahnt, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein, wenn sie sich auf ihre Freiheit in der Berufsausübung berufen. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Drogensucht eine „Querschnittsmaterie“ sei, die die ganze Gemeinschaft in verschiedenen Dimensionen beeinflusst. Ärzte sollen durch die Verschreibepraxis zur Verschlechterung dieser Situation beitragen, Sozialarbeiter sie verharmlosen.

Aufgabenteilung in der Gesellschaft

Wir leben jedoch in einer Welt der Aufgabentrennung, deren Grundlage auf dem Erwerb von spezifischen Kompetenzen beruht. Im Allgemeinen fährt die Gemeinschaft ganz gut mit diesem Konzept und im Allgemeinen werden diese Kompetenzen akzeptiert – ausgenommen bei der Drogenproblematik. Polizisten sind nun einmal keine besseren Ärzte und Ärzte keine besseren Polizisten, nicht jeder Pädagoge ist dafür geeignet, in der Prävention tätig zu sein.

Die Ärzte lassen – getreu ihrem professionellen Auftrag und gemäß den medizinethischen Vorstellungen und auf einem entsprechend hohen professionellen Niveau – jedem Patienten und somit auch Suchtkranken die bestmögliche Behandlung auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Grundlage und auch aufgrund der praktischen Erfahrung angedeihen. Darauf hat auch jeder Patient Anspruch.

Was die jeweils „bestmögliche Behandlung“ ist, entscheidet sich im vertrauten Rahmen des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Die Behandlung kann nicht gesetzlich vorgegeben werden. Die allgemeine Regulierung der Gesellschaft kann lediglich die Grenzen definieren, innerhalb derer sich der Arzt frei bewegen kann. Auch für die Substitutions-behandlung muss gelten, dass die Kompetenz der Bewertung der eingesetzten Arzneimittel den Ärzten obliegt.

Eine erfolgreiche Substitutionsbehandlung kann wesentlich dazu beitragen, die gesellschaftlichen Auswirkungen des Drogengebrauchs zu reduzieren. Die Behandlung ist die Grundlage dafür, dass sich der Gesundheitszustand der Patienten verbessert, dass die Risken, die der Lebensstil der Opiatabhängigen mit sich bringt, begrenzt werden, die Delinquenz reduziert und die soziale Eingliederung gefördert wird. Diese bedarf allerdings eines geeigneten soziokulturellen Rahmens. Werden Substanzen, Ärzte und Patienten stigmatisiert, ist nicht zu erwarten, dass diese „Normalisierung“ der Suchtkranken gelingt.

Während in den meisten Ländern der Europäischen Union zunächst ausschließlich Methadon angeboten wurde und dieses Angebot später um Buprenorphin erweitert wurde, wurde in Österreich bald nach Methadon auch der Einsatz von Morphinpräparaten mit verzögerter Wirkstoff-Freisetzung zugelassen. In der Zwischenzeit haben viele andere Länder ebenfalls das Spektrum des Angebots erweitert, indem eine definierte Gruppe von primär Heroin-Abhängigen mit der kontrollierten Abgabe von Heroin versorgt – nicht substituiert – wird.

Diese österreichische Option ist für viele Vertreter der mit der Behandlung befassten Berufe als fortschrittliche Position und als Methode der Wahl, die schwierige Klientel der Opiat-abhängigen in einen Behandlungsvertrag zu bekommen und sie in der Behandlung zu halten. Für die Mehrzahl der Substituierten scheint sich diese Vorgangsweise auch bewährt zu haben.

Berechtigte Kritik?

Andererseits wird immer wieder heftige Kritik am Einsatz der Morphine als Substitutions-mittel laut. Es wird argumentiert, dass diese Arzneimittel vermeintlich besondere Attraktivität für Suchtkranke aufweisen, da sie „ähnlich wirken wie Heroin“ und iv. konsumiert werden können. Aus der Sicht dieser Kritiker werden sie deshalb stärker als andere Substitutions-mittel missbräuchlich verwendet, gelangen auf den Schwarzmarkt und sind eine Hauptursache dafür, dass in Österreich immer wieder eine steigende Anzahl von Drogenopfern zu beklagen ist.

In Österreich fokussiert man sich dabei – bewusst oder unbewusst – einseitig auf Fehlverhalten und Missbrauch; über Erfolge wird kaum berichtet. Alle Substanzen, die in der Substitutionstherapie zum Einsatz kommen, wirken „wie Heroin“, weil sie – ebenso wie Heroin – synthetische beziehungsweise halbsynthetische Opioide sind – auch können sie alle i.v. appliziert werden.

Dass in der Diskussion um die österreichische Praxis medizinische Argumente eine eher untergeordnete Rolle spielen, sieht man daran, dass mit den Aussagen der Experten, die sich als Gegner der „Opiatsubstitution“ positionieren, der Eindruck erweckt wird, dass die Mittel, die in der Substitution zum Einsatz kommen, gänzlich gegeneinander austauschbar sind, also de facto die gleiche Wirkung ausüben. Unterschiede werden nur in der sicherheitspolitischen Dimension im „Missbrauchspotential“ beschrieben. Dieser Einschätzung muss aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht widersprochen werden. Bei allen Substanzen, die zum Einsatz kommen, handelt es sich um äußerst wirksame Arzneimittel, die lediglich eine gemeinsame Eigenschaft aufweisen: Aufgrund ihrer Wirksamkeit, im körpereigenen Opioidsystem, Entzugserscheinungen, die nach dem Erwerb von illegal erworbenen Opioiden auftreten, zu unterdrücken, und die deshalb als Ersatzmittel für diese Substanzen in Frage kommen. Abgesehen von dieser Wirkungs-gemeinsamkeit haben die geläufigen Substitutionsmittel ein differierendes Wirkungs- und vor allem Nebenwirkungsspektrum.

Opioide als Antidepressiva

Eine bedeutsame Rolle spielt dabei auch, dass alle Opioide eine antidepressive Wirkung ausüben und dabei aufgrund verschieden gearteter Wirkungen auf die neuro-endokrinen Strukturen diese Wirksamkeit bei den verschiedenen Substitutionsmitteln differente Auswirkungen auf die Stimmungs- und Affektlage hat. Die Klientel der Substitutions-behandlung, von denen ein hohes Ausmaß auch an einer affektiven Störung leidet, wird „off label“ mit Opioiden behandelt. Berücksichtigt man all das, ergibt sich die Forderung, dass eine fachgerechte medikamentöse Behandlung der Patienten auf einer Diagnose beruhen muss, die sowohl die somatische wie auch die psychopathologische Belastung erfasst, insbesondere die Art und Ausprägung der affektiven Symptomatik.

Bei der psychopharmakologischen Behandlung wäre Buprenorphin bei einer gehemmten oder einer atypischen Depression vorzuziehen, während im Fall einer ängstlich betonten Verstimmung Methadon oder Morphinen der Vorzug gegeben werden sollte – unter Berücksichtigung von somatischen Unverträglichkeiten. Hier besteht ein Forschungsauftrag für die Neurowissenschaften.

Schlussfolgerung

Die medizinischen und psychiatrischen Erkenntnisse kann man realistisch nur dahin gehend interpretieren, dass „first line“-Empfehlungen bei einem derart komplexen Krankheitsbild wie der Opiatabhängigkeit aus medizinischer Sicht problematisch sind, die gewissenhafte Verschreibung behindern und damit den Standard der Behandlung beeinträchtigen. Die Forderung, dass eine Substanz nur dann verschrieben werden sollte, wenn eine Unverträglichkeit gegenüber jener Substanz, die aus welchen Gründen auch immer, als „first line“-Medikation definiert wird, beeinträchtigt korrektes medizinisches Handeln. Die anderen Substanzen können für die Behandlung besser geeignet sein, auch wenn keine Anzeichen einer „Unverträglichkeit“ beobachtet werden können. Rechtliche Vorgaben sollten den Eindruck vermeiden, zu unprofessionellem Handeln aufzufordern. Würde man die „first line“-Substanz getreu der Verordnung verschreiben, um in einem bestimmten Fall ohnehin zu erwartende unerwünschte Nebenwirkungen/Unverträglichkeiten manifest werden zu lassen, um dann das von Anfang an besser geeignete Präparat abgeben zu können, wäre das eine Vorgangsweise, die sowohl aus professioneller als auch aus medizinethischer Sicht bedenklich ist.

*) Univ. Prof. Dr. Alfred Springer ist em. Leiter des Ludwig Boltzmann Institutes für Suchtforschung und 2. Vorsitzender der ÖGABS (Österreichischen Gesellschaft für Arzneimittel-gestützte Behandlung von Suchtkrankheit);
E-Mail: alfred.springer@meduniwien.ac.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2013