Synthetische Drogen: Immer wieder neu

25.10.2013 | Medizin

Allein in Europa wurden 2012 insgesamt 73 neue Legal Highs – auch Research Chemicals genannt – in Umlauf gebracht wie etwa das Ketamin-Derivat Methoxetamin und die hoch toxischen Substanzen 4-MA, PMA und PMMA. Vor allem junge Erwachsene, die sozial integriert sind, greifen zu diesen Drogen.
Von Marion Huber

Mehr als 280 dieser neuen psychoaktiven Substanzen werden derzeit über das Frühwarnsystem der EU überwacht. In bunten Fläschchen oder schillernden Aluminiumbriefen mit Motiven; als Kräutermischungen, Pillen oder Badesalze mit klingenden Namen wie Cloud Nine, Vanilla Sky oder White Dove. Von diesen „Legal Highs“ oder Research Chemicals, wie die neuen synthetischen Drogen auch genannt werden, wurden in Europa allein im Jahr 2012 insgesamt 73 in Umlauf gebracht. Das bedeutet: Woche für Woche kommt zumindest eine neue Substanz auf den Markt, indem bereits bekannte psychoaktive Drogen chemisch modifiziert werden. Der Vorteil dabei: Nationale Drogengesetze werden meist erfolgreich umgangen, da die neuen Substanzen (noch) nicht darin erfasst sind.

Während viele Länder diesbezüglich in der Gesetzgebung generell hinterherhinken, ist in Österreich mit 1. Jänner 2012 das Neue-Psychoaktive-Substanzen-Gesetz (NPSG) in Kraft getreten. Es verbietet die Produktion und den Handel mit synthetisch hergestellten Substanzen, die nicht der Drogengesetzgebung unterliegen. Welche Substanzen unter das Verbot fallen, wird in der Neue-Psychoaktive-Substanzen-Verordnung (NPSV) festgelegt. Der Vorteil des österreichischen Gesetzes: Es sind sowohl einzelne Substanzen als auch ganze chemische Verbindungsklassen definiert. Daher fallen auch neue Drogen mit einer leicht veränderten Molekülstruktur darunter.

Research Chemicals entfalten meist eine ähnliche Wirkung wie Amphetamin oder THC. „Das Tückische an ihnen ist aber, dass sie unberechenbar sind, da ihre genaue Zusammensetzung in den wenigsten Fällen bekannt ist“, warnte Univ. Prof. Rainer Schmid, Leiter des Bereichs Toxikologie und Medikamentenanalytik der Medizinischen Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter der Drogenberatungsstelle „checkit!“, bei einer Pressekonferenz.

Demnach war in den vergangenen Jahren nur noch in elf Prozent der als „Ecstasy“ verkauften Pillen wirklich das erwartete MDMA (3,4-Methylen-Dioxy-Methamphetamin) enthalten. In den restlichen 89 Prozent konnten immer öfter Substanzen aus der Reihe der Research Chemicals gefunden werden. Zuletzt wurde auch in Österreich in als Ecstasy verkauften Tabletten die neue synthetische Substanz Methoxetamin (MXE) identifiziert. Auch in Speed wurden Anteile von Methoxetamin sowie Spuren von 4-Methylamphetamin (4-MA) – meist in Kombination mit Amphetamin und Koffein – nachgewiesen.

Als hoch toxisch gelten auch 4-MA, PMA (Para-Methoxy-Amphetamin) und PMMA (Para-Methoxy-Methamphetamin). Aufgrund ihrer „hochgradigen Ähnlichkeit mit Amphetamin und ihrer Gesundheitsgefahren“ hat die EU 4-MA im März 2013 EU-weit „Kontrollmaßnahmen und strafrechtlichen Sanktionen“ unterworfen. Bis dahin waren bereits mehr als 20 Todesfälle aus vier EU-Staaten (Belgien, Dänemark, Niederlande und Großbritannien) in Zusammenhang mit der Substanz gemeldet worden.

In der Produktion einfacher und billiger als die als „Ecstasy“ bekannten Amphetaminderivate wie MDMA sind PMA/PMMA bei gleicher Dosierung sehr viel toxischer, somit besteht sehr rasch die akute Gefahr einer Überdosierung. Im Glauben, „Ecstasy“ gekauft zu haben, nehmen Konsumenten eine für PMA/PMMA zu hohe Dosis ein. Auch weil die psychoaktive Wirkung langsamer und schwächer einsetzt als bei MDMA, sind Konsumenten versucht, noch mehr von diesen Tabletten einzunehmen. Der Tod wird also nicht durch den einmaligen Konsum dieser Substanzen verursacht, sondern die Ursache liegt vielmehr im extremen Risikoverhalten der Betroffenen, so Schmid. Auch die psychoaktive Substanz 5-IT (5-(2-Aminopropyl)indol) wurde in Proben von „Legal Highs“ und Ecstasy-ähnlichen Tabletten festgestellt. In erster Linie kommt sie allerdings in Pulverform vor. 5-IT wirkt stimulierend und halluzinogen und kann zu Tachykardie, Hyperthermie, Erregungszuständen und Zittern führen. Allein von April bis August 2012 wurden 24 Todesfälle in vier EU-Ländern (Deutschland, Ungarn, Schweden und Großbritannien) damit in Zusammenhang gebracht.

Markt hat sich gewandelt

Wurden psychoaktive Substanzen noch vor wenigen Jahren in geheimen Labors hergestellt und auf dem illegalen Drogenmarkt verkauft, ist es heute leicht, sie zu erwerben: Ein Internet-Anschluss reicht, um in Online-Shops Research Chemicals zu bestellen. Das habe – so heißt es im Jahresbericht 2012 „New drugs in Europe“ von Europol und der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) – zu einem „grundlegenden Wandel des Drogenmarktes“ geführt: „Inzwischen werden diese Substanzen, die häufig in China und Indien hergestellt werden, in großen Mengen nach Europa importiert, wo sie verarbeitet, verpackt und als ‚Legal Highs‘ verkauft werden.“ Im Vorjahr etwa gab es 693 verschiedene Internet-Anbieter für Konsumenten aus EU-Staaten. Damit hat sich deren Zahl im Vergleich zu 2011 – damals gab es 314 Internet-Anbieter – mehr als verdoppelt.

Freizeit-Konsum

Es sind auch nicht die „klassischen Drogenkonsumenten“, die zu neuen synthetischen Drogen greifen. „Großteils sind es junge Erwachsene, die ihr Leben im Griff haben und sozial integriert sind, die aber auch besonders risikobereit sind“, konkretisierte Schmid. Die Betreffenden möchten auf Partys einen Kick haben und eine bestimmte Wirkung erfahren – speziell bei Musikveranstaltungen und Festivals. Genau in diesem Setting setzen die Initiativen der Drogen-Beratungsstelle „checkit!“ an. Neben der Beratung per Telefon, Internet oder persönlich ist das Team um den wissenschaftlichen Leiter Schmid bei diesen Musik-Events und in Clubs vor Ort und analysiert in einem mobilen Labor Drogen-Proben auf ihre Inhaltsstoffe. Die Party-Teilnehmer bringen ihre – schon zuvor gekauften – Drogen in Eigeninitiative zum Test. Die Ergebnisse werden kurze Zeit später auf einer Anschlagtafel beim checkit!-Stand ausgehängt – anonym und mit einer Nummer versehen. Stoßen die Experten bei ihren Analysen auf besonders gefährliche Inhaltsstoffe oder Dosierungen, wird noch bei der Veranstaltung via Lautsprecher davor gewarnt. Gleichzeitig werden die umliegenden Krankenhäuser darüber informiert, dass gefährliche Substanzen im Umlauf sind.

Pro Event werden so rund 100 – manchmal sogar 200 – Proben analysiert. Mit doppeltem Effekt: Zum einen erfahren die Konsumenten, ob in den von ihnen gekauften Drogen andere als die erwarteten Inhaltsstoffe sind – und das, bevor sie sie nehmen. Schmid dazu: „Es gibt keinen Konsum ohne Risiko. Aber so können wir das Risiko zumindest minimieren.“ Zum anderen sammeln die Experten Daten über die Drogen, die im Umlauf sind. Oft konnten so auch in Österreich völlig neue Substanzen identifiziert und der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon gemeldet werden.

Methoxetamin im Detail

Methoxetamin ist ein Ketamin-Derivat; seine Wirkung ist bei gleicher Dosierung aber intensiver und länger als bei Ketamin: Blutdruck und Pulsfrequenz erhöhen sich; die Koordination und das Sprachvermögen werden eingeschränkt, das Schmerzempfinden stark herabgesetzt. Bei hohen Dosen kommt es zu einer völlig verschobenen Sinnes- und Körperwahrnehmung, optischen und akustischen Halluzinationen, Nahtod-Erlebnissen und Depersonalisierung. Auch Horrortrips können durch Methoxetamin ausgelöst werden.

4-MA im Detail

4-MA wirkt als Wiederaufnahme-Hemmer von Monoamin-Neurotransmittern: Nach der Einnahme steigen Puls, Blutdruck und Körpertemperatur stark und abrupt an – 40 bis 42 Grad Celsius sind möglich. Bei Überdosierung kann es zu Erbrechen, Muskelkrämpfen, Atemproblemen bis hin zum Serotonin-Syndrom und Organversagen kommen.

Interview – „Dauernder, riesiger Feldversuch“

Erst mit der Zahl der Konsumenten wird das Risikoprofil der neuen synthetischen Drogen sichtbar. So beschreibt Univ. Prof. Rainer Schmid, Leiter der Toxikologie und Medikamentenanalytik am Wiener AKH, die Vorgangsweise der Experten mit den neuen synthetischen Drogen.
Das Gespräch führte Marion Huber.

ÖÄZ: Was ist das besonders Gefährliche an den neuen synthetischen Drogen?
Schmid: Wir wissen nicht, welche toxischen Kurz- und Langzeit-Nebenwirkungen diese Substanzen haben. Andererseits dürfen wir nicht wie das Kaninchen vor der Schlange stehen und von der Zahl fasziniert sein. Über das Early Warning System der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle sind mehr als 280 Substanzen registriert. Das heißt aber nur, dass so viele Substanzen irgendwann in irgendeinem Land neu am Markt aufgetaucht sind. Nicht alle kommen nach Österreich. Die meisten Substanzen tauchen auf und verschwinden wieder. Nur jene, die im Sinne der Konsumenten ein gutes Wirkprofil haben, machen den Markt.

Welche Research Chemicals stufen Sie als besonders toxisch ein?
Unter den 280 gemeldeten Substanzen gibt es eine Handvoll – wie PMA, 4-MEC oder 5-IT – bei denen Todesfälle im Zusammenhang mit dem Konsum gemeldet wurden. Das ist ein dauernder, riesiger Feldversuch: Neue Strukturen kommen auf den Markt, werden eine Zeit lang konsumiert und erst mit der Zahl der Konsumenten wird das Risikoprofil sichtbar. Wir warten quasi ab, was wir sehen.

Diese Drogen sind ja oft gestreckt oder enthalten andere als die erwarteten Inhaltsstoffe.
Richtig. Das große Risiko der Research Chemicals ist nicht nur, dass wir nichts über ihr toxikologisches Profil wissen. Wesentlich problematischer ist, dass die Substanzen nicht als das verkauft werden, was sie sind. Nach wie vor ist es so, dass Konsumenten ‚klassische‘ Drogen wie Speed verlangen, aber etwas ganz Anderes bekommen, oft auch Mischungen von einer oder mehreren synthetischen Drogen. Sie konsumieren diese Substanz aber in dem Glauben, mit dem Wissen und der Erfahrung, die sie im Zusammenhang mit der erwarteten Droge haben. Und das kann problematisch werden.

Hat es in Österreich schon Todesfälle in Zusammenhang mit Research Chemicals gegeben?
Sehr wenige. Im Moment sieht es nicht sehr bedrohlich aus. Die Häufigkeit von Todesfällen hängt natürlich auch von der Prävalenz des Konsums ab. Deshalb hören wir vermehrt von Todesfällen in Großbritannien. Dort ist nicht nur generell die Prävalenz des Drogenkonsums deutlich höher. Auch die neuen synthetischen Drogen sind wesentlich weiter verbreitet als bei uns.

Wird der Trend in Richtung Research Chemicals weitergehen?
Zumindest in Ost-Österreich, wo wir von ‚checkit!‘ mit dem mobilen Drogenlabor Events besuchen, haben neue synthetische Substanzen die klassischen illegalen Drogen nur kurzfristig verdrängt. 2011 und 2012 war dieser Trend massiv, ist seitdem tendenziell wieder zurückgegangen. Die Betroffenen gehen mit den Substanzen eher vorsichtig um, weil sie ihnen auch nicht geheuer sind. Der Konsum geht eher in Richtung klassische illegale Drogen wie Speed oder Ecstasy als Pulver. Dennoch wird das Interesse der Konsumenten durch ständig neue Substanzen hochgehalten, weil sie neue Erlebnisse versprechen, auch wenn sie das in den meisten Fällen nicht bieten. Ein ähnliches Phänomen konnten wir schon einmal beobachten. In den 1990er Jahren gab es Ecstasy als Tabletten mit verschiedenen Logos, Formen und Farben. Obwohl es immer die gleiche Substanz war, wurden die neuen Logos in der Szene subjektiv als besser und wirksamer wahrgenommen. Ich vermute, dass das bei neuen synthetischen Substanzen auch so ist.

Wie würden Sie die Zielgruppe charakterisieren, die diese Drogen konsumiert? Sind es die ‚klassischen‘ Drogenkonsumenten?
Mit den ‚klassischen‘ Drogenkonsumenten haben diese Freizeit-Konsumenten absolut nichts zu tun. Das ist eine Phase in ihrem Leben, in der sie experimentieren – und wenn sich dann das Umfeld ändert, haben auch Drogen wenig oder keine Bedeutung mehr. Natürlich gibt es auch in dieser Szene verschiedene Konsumenten-Typen: ‚Probierer‘ und ‚Routiniers‘. Außerdem sprechen die unterschiedlichen Wirkprofile der neuen synthetischen Drogen auch unterschiedliche Konsumentengruppen an.

Welche Wirkprofile sind das?
Man muss unterscheiden zwischen synthetischen Substanzen, die eine aktivierende/Amphetamin-ähnliche Wirkung haben, jenen, die stark halluzinogen wirken und wieder anderen mit speziellen, etwa Ketamin-ähnlichen Wirkprofilen. Zusätzlich gibt es die immer stärker werdende Gruppe von synthetischen Cannabinoiden oder Cannabis-Rezeptor-Agonisten. ‚Spice‘ & Co sind vor etwa vier Jahren als mehr oder minder legales Substitut zu Cannabis aufgetaucht, wirken wie THC und kommen aus der Pharma-Grundlagenforschung. Sie haben sich als Gruppe mittlerweile extrem gut etabliert, ihre Verbreitung nimmt stark zu. Zum einen, weil sie nicht so verfolgt werden wie Cannabis und damit weniger riskant für Käufer und Händler sind und zum anderen sind sie meist günstiger zu bekommen und können bislang kaum detektiert werden. Das große Problem ist, dass eine Reihe dieser Substanzen wesentlich potenter und pharmakologisch problematischer in Bezug auf Folgewirkungen und Risiko ist als nieder potentes Cannabis.

Wie kann man damit in der Prävention umgehen?
Bei jungen Erwachsenen, die sich vom Konsum von Research Chemicals ja meist ohnehin nicht abhalten lassen, geht es darum, mit viel Information ihr Risikobewusstsein zu stärken. Was in der Prävention schon schwieriger, aber meiner Meinung nach sogar wesentlich wichtiger ist: Bei den ganz Jungen muss man viel stärker darauf achten, dass sie gar keine psychoaktiven Substanzen konsumieren. Stichwort ‚Spice‘: Für diese Gruppe ist diese Droge besonders interessant, weil der Zugang leichter ist und die Barriere zum illegalen Cannabis nicht gegeben ist. Hier muss man durch Aufklärung verstärkt entgegenwirken. Mit einem Verbot schafft man das nicht.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2013