Schicht- und Nachtarbeit: Arbeit mit gesundheitlichen Folgen

25.05.2013 | Medizin

Abweichende Arbeitszeiten haben nicht während der Schichtarbeit, sondern auch danach ihre Nachwirkungen. Auch soll dadurch das Krebsrisiko höher sein als bisher angenommen: Wie eine Studie aus Köln ergab, haben Pilotinnen und Flugbegleiterinnen ein um 70 Prozent erhöhtes Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.

Das Besondere an abweichenden Arbeitszeiten ist, dass diese nicht nur während der Arbeit eine Belastung darstellen, sondern auch die ganze übrige Zeit und vorwiegend dann, wenn der Organismus eigentlich auf Erholung geschaltet ist“, erklärt Univ. Prof. Michael Kundi vom Institut für Umwelthygiene der Medizinischen Universität Wien. Jeder Mensch hat einen Körperrhythmus, der am Tag auf Leistung und in der Nacht auf Erholung programmiert ist. Wird dieser innere Zyklus gestört, kann dies aufgrund der Desynchronisation zu körperlichen und psychischen Beschwerden wie Herz-Kreislaufstörungen, Magen-Darmerkrankungen und Depressionen führen. Vor allem kommt es durch die unregelmäßigen Arbeitszeiten zu Ernährungsproblemen und zu chronischen Schlafstörungen. Das bestätigt Christine Klien, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin: Der Schlafrhythmus ist nicht nur bei Schichtarbeit, sondern vor allem bei Nachtarbeit in Mitleidenschaft gezogen. Frühschichten beginnen meist um 6.00 Uhr oder sogar um 5.00 Uhr, manchmal mitten in der Nacht „und das schränkt die Schlafgewohnheiten massiv ein“, wie Klien aus der Praxis weiß. Aktuelle Untersuchungen belegen unter anderem, dass viele Verkehrsunfälle auf Übermüdung zurückzuführen sind.

Neben den gesundheitlichen Folgeerscheinungen gibt es noch einen weiteren Aspekt, der sich wesentlich auf die Lebensqualität von Arbeitnehmern auswirkt – vor allem in sozialer Hinsicht. Klien dazu: „Durch die Schicht- und Nachtarbeit ist das außerberufliche Leben sowohl hinsichtlich Familienleben als auch im gesellschaftlichen Kontext in seiner Qualität deutlich eingeschränkt. Neben der ungesunden Ernährungsweise ist es auch oft nicht mehr möglich, regelmäßig eine Sportart auszuüben oder ein Hobby zu betreiben.“ Außerdem kritisiert die Arbeitsmedizinerin die derzeitigen Schichtsysteme, die dazu führen, dass Arbeitnehmer noch mehr unter Druck geraten. „In der Wirtschaft ist auf die Regelmäßigkeit von Schichtplänen oft kein Verlass mehr. Früher gab es klare Schichtsysteme, also eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht, dann wieder eine Woche Frühschicht u.s.f. Heute muss alles schneller gehen.“ So müssten Aufträge von heute auf morgen erfüllt werden mit der Folge, dass Schichtpläne laufend umorganisiert werden und zu unregelmäßigen Rotationen führen, die sich dann besonders belastend auf die Arbeitnehmer auswirkten.

Auch das Krebsrisiko soll im Zusammenhang mit Schichtarbeit signifikant höher sein als bisher angenommen. Ärzte vom Institut für Arbeitsmedizin an der Universität Köln haben im Jahr 2012 insgesamt 30 Studien aus aller Welt über Flugbegleiterinnen und Pilotinnen zum Thema Schichtarbeit ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass Frauen aus dieser Berufsgruppe ein um 70 Prozent erhöhtes Risiko an Brustkrebs und die männlichen Kollegen ein um 40 Prozent erhöhtes Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, aufweisen. Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) – eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation WHO – hat bereits Ende 2007 bestimmte Formen der Schichtarbeit als Krebs-erregend eingestuft. Die Resultate der Studie aus Köln sind jedoch umstritten. Kundi dazu: „Es gibt Hinweise dafür, dass die Störung der Zirkadianperiodik mit dem Melatonin-Haushalt zusammenhängt und dadurch die Entstehung von Hormon-abhängigen Tumoren wie Brust- und Prostatakrebs fördert.“ Schichtarbeit werde von der IARC in die Gruppe 2A der Karzinogene eingeordnet. „Das bedeutet, dass es da einen wahrscheinlichen Zusammenhang gibt. Aber es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich nur um indirekte zum Beispiel über die Störung des Melatonin-Haushalts vermittelte Effekte handelt“, so Kundi.

Innere Zeitgeber

Einer der Hauptgründe für das erhöhte Krankheitsrisiko ist die innere Uhr des Menschen, die im Zusammenhang mit der Wirkungsweise des Melatonins besonders gut erforscht wurde. Es gibt mehrere solche unabhängige innere Zeitgeber. Der wichtigste davon befindet sich im Hypothalamus und gibt den Tag-Nachtrhythmus vor. Eine Gruppe von Nervenzellen im SCN (Suprachiasmatischer Nucleus) reagiert durch den Input von spezifischen Zellen in der Netzhaut auf Licht und Dunkelheit in der Außenwelt. Vom suprachiasmatischen Nucleus führen Nervenbahnen zur Epiphyse, in der bei zunehmender Dunkelheit das Hormon Melatonin ausgeschüttet wird. Umgekehrt wird bei beginnendem Tageslicht (ab etwa 1.500 Lux) die Melatonin-Ausschüttung gestoppt. Im Hinblick auf die kanzerogene Wirkung sind daher zwei Wechselwirkungen des Melatonins von Bedeutung: Einerseits fungiert das Melatonin als Radikalfänger im Organismus. Bei einem niedrigeren Melatoninspiegel ist die DNA mehr Schädigungen ausgesetzt und das Krebsrisiko steigt nicht nur für Hormonabhängige Tumoren. Andererseits ist das Melatonin ein Gegenspieler des Östrogens und wirkt daher anti-mitogen. Die Teilungsrate der abweichenden Zellen wird reduziert und somit das Brustkrebsrisiko gesenkt.

Inwieweit andere Körperfunktionen durch Melatonin beeinflusst werden und Krankheiten auslösen, ist noch nicht vollständig geklärt. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten. Epidemiologische Erhebungen sind nicht frei von methodischen Mängeln, die Studienpopulationen sollten einen sehr großen Umfang aufweisen. Da in manchen Berufsgruppen alle Nachtarbeit leisten, ist es schwierig, eine Kontrollgruppe zu formieren. Außerdem müsste bei den betreffenden Personen der Melatoninwert über einen langen Zeitraum in regelmäßigen Abständen gemessen werden. Groß angelegte Studien scheitern oft an der Finanzierung. Dazu kommt, dass Menschen auf Schicht- und Nachtarbeit unterschiedlich reagieren. Einige vertragen diese sehr gut, andere wiederum tolerieren die oft einschneidenden gesundheitlichen und sozialen Folgen nur schwer. Einen fundierten Nachweis zu erbringen, gestaltet sich daher als außerordentlich schwierig und hat zur Folge, dass die von Experten prognostizierten ökonomischen und sozialen Langzeitfolgen der Schicht- und Nachtarbeit von Arbeitgeberseite immer wieder scharf kritisiert werden.

Die Praxis zeigt aber, dass mit den unregelmäßigen Arbeitszeiten häufig Übergewicht und daraus folgende Risikoerkrankungen, weiters eine erhöhte Stressbelastung sowie Konzentrationsstörungen durch Übermüdung einhergehen. Problematisch ist außerdem, dass Arbeitnehmer Nachtarbeit freiwillig aus finanziellen Überlegungen trotz gesundheitlicher Beschwerden in Kauf nehmen. Klien berichtet aus der Praxis: „Geld steht dabei vor Gesundheit. Gerade bei älteren Arbeitnehmern ist das ein zunehmend virulenteres Problem, weil sie trotz ärztlicher Empfehlung weitermachen.“ Kundi ergänzt: „Solche Patienten benötigen dann eine besondere Beratung und Betreuung.“ Ein Thema, das seiner Ansicht nach speziell niedergelassene Ärzte verstärkt aufgreifen sollten: „Eine gute Anamnese, vor allem bei Patienten mittleren Alters, zu der auch eine Arbeits-Anamnese gehört.“ Es ist wichtig zu wissen, was jemand arbeitet und welche Arbeitszeiten der Betreffende hat, um abschätzen zu können, welchen Belastungen er ausgesetzt ist. Die Risikofaktoren sollten dann frühzeitig beobachtet werden. Früher hat der Hausarzt die Lebensumstände seiner Patienten besser gekannt – dies sei heute aufgrund der Hektik und wegen des häufigen Arztwechsels oft nicht mehr der Fall. Kundi weiter: „Von ärztlicher Seite sollte aber trotz allem die Zeit für eine Anamnese der Arbeitsund Lebensbedingungen aufgebracht werden. Das fördert auch den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses.“

Aber nicht nur Ärztinnen und Ärzte sind gefragt, auch die Arbeitgeber und der Gesetzgeber müssen für die Gesundheit der Arbeitnehmer zur Verantwortung gezogen werden. Ein Beispiel: Für alle Arbeitnehmer gilt das Arbeitszeitgesetz – besondere Regelungen gelten für die Bäcker, Jugendliche und werdende Mütter. Für Beschäftigte mit Gesundheitsberufen in Krankenhäusern, also gerade bei den Ärzten und Ärztinnen und dem Pflegepersonal, gilt das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz, das „aus arbeitsmedizinischer Sicht dringend reformbedürftig ist“, unterstreicht die Arbeitsmedizinerin. „Änderungen sind zwar durch Betriebsvereinbarungen möglich. Diese werden aber zu selten zum Wohle der Gesundheit der Beschäftigten eingeführt“, so Klien abschließend.
DK

Steuerung durch Nucleus suprachiasmaticus

Viele Abläufe, die im Körper verankert sind, werden in der Nacht reguliert wie zum Beispiel die Körpertemperatur, der Blutdruck, Herzschlag und die Verdauung. Laut einer britischen Studie erfolgt die Regeneration der Magenschleimhaut in der Nacht – durch ein Reparatur-Eiweiß.

Mittlerweile konnte durch Forschungen auch belegt werden, dass sich in jeder Zelle und in jedem Gewebe innere Uhren befinden, die in einem eigenen Rhythmus ticken. Sie reagieren anders als die innere Uhr im Nucleus suprachiasmaticus nicht auf Licht, sondern zum Beispiel auf Nahrung (Leber) oder Bewegung (Muskeln). Damit sie nicht aus dem Takt geraten, werden diese ständig von der Hauptuhr, dem Nucleus suprachiasmaticus, synchronisiert, der die „Uhren“ an der Peripherie koordiniert.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2013