Obstipation bei Kindern: Funktionell oder psychosozial bedingt

15.07.2013 | Medizin

Bei mehr als 95 Prozent der über einjährigen Kinder, die an Obstipation leiden, liegt eine funktionelle Störung vor – oft im Rahmen einer Nahrungsumstellung oder bei ballaststoffarmer Ernährung. Bei einer Hypertrophie des inneren Schließmuskels ist die Anal-sonographisch gezielte Botoxtherapie am effektivsten.Von Elisabeth Gerstendorfer

Oft sind es die Nahrungsumstellung im Alter von zwei bis drei Jahren sowie ein Flüssigkeitsdefizit, die dazu führen, dass sich der Stuhl des Kindes eindickt. Die Defäkation verläuft für das Kind schmerzhaft, vor allem dann, wenn es zu Rhagaden oder einer Analfissur gekommen ist. Während Erwachsene in der Regel erkennen, dass sie beispielsweise zu wenig getrunken haben, fehlt Kindern diese Einsicht. „Die meisten Kinder versuchen, die schmerzhafte Situation zu vermeiden und beginnen, den Stuhlgang zurückzuhalten. Sie strecken sich durch, verkrampfen die Gesäßmuskulatur und erleben die Toilettensituation als äußerst unangenehm“, sagt Univ. Prof. Alexandet Rokitansky, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie am Donauspital/SMZ Ost Wien. Ein Regelkreis beginnt, der die Obstipation sukzessive verstärkt: Wird der Stuhlgang weiter unterdrückt, kommt es zu einer Hypertrophie des unwillkürlichen Sphincter ani internus. Rokitansky: „Mit zunehmender Hypertrophie gelingt der Stuhlgang immer schwerer, selbst wenn das Kind bereit dazu wäre.“ Bei Patienten mit hartnäckiger Obstipation beträgt die Anal-endosonographisch messbare Schließmuskelbreite bis zu 2,8 Millimeter; bei Kindern ohne Obstipation liegt sie zwischen 0,5 und einem Millimeter.

Typische Symptome

Etwa drei Prozent aller Kinder leiden unter chronischer Obstipation, die nicht durch eine anatomische Fehlbildung oder eine angeborene Erkrankung bedingt ist. Dabei treffen mindestens zwei der folgenden Symptome zu: Die Stuhlfrequenz liegt über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten unter dreimal pro Woche und mehr als einmal wöchentlich Stuhlinkontinenz; große Stuhlmengen im Bauch oder Mastdarm sind tastbar; gelegentliche Entleerung großer Stuhlmengen; Versuche, den Stuhl zurückzuhalten sowie harter, großkalibriger Stuhl. Darüber hinaus klagen betroffene Kinder oft über Bauch- und Defäkationsschmerzen. Hellrote Blutauflagerungen am Stuhl sind durch Rhagaden oder Analfissuren verursacht. Seltener kommen differentialdiagnostisch juvenile Schleimhautpolypen infrage. Bei chronischer Obstipation können neben Blutauflagerungen und perianalen Entzündungen auch eine Enuresis sowie Harnwegsinfekte in einem pathogenetischen Zusammenhang stehen.

Auch Einkoten kann auf Obstipation hindeuten, wenn etwa ein großer Stuhlstein (Koprolith) über die Dehnung der obersten Schließmuskelanteile zum sogenannten „Stuhlschmieren“ führt. Seitlich am Koprolith kann mehrmals täglich bis andauernd wenig weicher Stuhl vorbeigelangen und abgegeben werden, sodass fälschlich der Verdacht auf Stuhlinkontinenz fällt. In diesem Fall liegt eine so genannte „Überlaufinkontinenz“ vor. Finden sich große Stuhlmassen im Enddarm, können sie auch auf umgebende Organe Druck ausüben – etwa auf die Harnblase – sodass sich infolge der Volumensbegrenzung Symptome der Enuresis ergeben. Bei entsprechender Therapie und vollständiger Entleerung des Enddarms geht das Bettnässen in diesen Fällen jedoch vorüber. Darmentzündungen, Darmträgheit sowie Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Mangelerscheinungen können ebenfalls Folge der Obstipation sein.

In der Differentialdiagnostik ist neben einer gründlichen Untersuchung eine ausführliche Anamnese, die bei der Geburt des Kindes beginnen sollte, zielführend. Unterschieden werden muss in der Vorgehensweise hinsichtlich des Alters des Kindes. „Anders als bei älteren Kindern sind die Ursachen von Obstipation im ersten Lebensjahr häufig angeborene, anatomische Malformationen. Je jünger und je ausgeprägter die Symptome, umso eher muss man an eine anatomische Ursache denken“, sagt Ao. Univ. Prof. Almuthe Hauer von der Klinischen Abteilung für allgemeine Pädiatrie an der Medizinischen Universität Graz. Am häufigsten ist der M. Hirschsprung, bei dem eine schwere nervale Motilitätsstörung des Colons vorliegt und der operativ gut behandelbar ist. Hinweis dafür ist ein verzögerter Mekoniumabgang (>24 Stunden nach der Geburt), der auch auf die Cystische Fibrose hindeuten kann. Auch eine Schilddrüsenunterfunktion oder eine Zerebralparese können Ursachen der Obstipation sein. „Jenseits des ersten Lebensjahres liegt bei mehr als 95 Prozent der betroffenen Kinder eine funktionelle Störung vor, häufig im Rahmen der Nahrungsumstellung oder bei ballaststoffarmer Ernährung“, berichtet Hauer. Auch psychosoziale Belastungen können sich auf die Defäkation auswirken, wenn sich beispielsweise Eltern trennen, Geschwisterchen dazukommen, sexueller Missbrauch vorliegt oder die Kinder von Gleichaltrigen schikaniert werden. Ein oft vermuteter Mangel an Bewegung ist nur selten die Ursache. „Studien zeigen, dass sowohl Kinder mit normalem Schulsport unter Obstipation leiden als auch Kinder, die überdurchschnittlich viel Sport betreiben. Die Bewegung im Turnunterricht o.ä. wie sie für Schulen und Kindergärten konzipiert ist, müsste für ein gesundes Darmverhalten ausreichend sein“, sagt Hauer.

Nach einer ausführlichen Anamnese sollte der Beckenboden untersucht sowie im Rahmen einer Abdomensonographie besonderes Augenmerk auf das kleine Becken gelegt werden. Hier gilt es, hinter der Harnblase das stuhlgefüllte dilatierte Rektum in seiner überdehnten Dimension darzustellen. Eine Schilddrüsenunterfunktion kann differentialdiagnostisch ebenso auch wie eine Cystische Fibrose relevant sein. Sind diese Untersuchungen unauffällig, muss zur weiterführenden Diagnostik an die Klinik überwiesen werden. Sollte eine Anteposition des Anus als Minimalvariante einer Analatresie mit perinealer Fistel in Frage kommen, sind weiterführende Untersuchungen wie die Elektrostimulation des Schließmuskelapparates angezeigt. Um einen M. Hirschsprung auszuschließen, wird eine Schleimhautbiopsie der Darmwand entnommen und untersucht, ob Ganglienzellen oder eine pathologische Nervenfaserhypertrophie vorliegen.

Während im Bereich der Erwachsenenmedizin Abführmittel bei Obstipation vielfach eine zielführende Behandlung ermöglichen, helfen sie bei Kleinkindern nur bedingt. Die Behandlung bei Überdehnung des Enddarms und Hypertrophie des inneren Schließmuskels gelingt nicht durch übliche Abführmittel wie Lactulose allein. „Auch wiederholte Einläufe sind problematisch, weil sie das Kind ohne Krankheitseinsicht massiv traumatisieren. Wird mittels Analsonographie eine Hypertrophie des inneren Schließmuskels größer als ein Millimeter festgestellt, hat sich die sonographisch gezielte Injektion von Botulinumtoxin A bewährt“, so Rokitansky. In allgemeiner Kurznarkose werden 16 i.E./kg Körpergewicht des Präparates Dysport® zirkulär aufgeteilt auf die Quadranten des inneren Schließmuskels injiziert. Die Innervation wird so über einen Zeitraum von rund sechs Monaten örtlich gelähmt. Mit Problemen einer Stuhlinkontinenz ist nicht zu rechnen, nachdem nur der innere Schließmuskel behandelt wird und der äußere willkürlich innervierte Anteil unbehandelt bleibt. Als Folge der Behandlung geht die extreme Ausweitung des Enddarmes zurück, der Stuhl wird weichgehalten, am günstigsten mit Macrogol, bis die physiologische Rektumdimension wiederhergestellt ist. Bis ein stark überdehnter Darm wieder einen normalen Durchmesser hat, dauert es manchmal sechs Monate. Rokitansky: „Der Durchmesser wird mittels Ultraschall hinter der Harnblase gemessen. Anale Manipulationen werden grundsätzlich vermieden. Die Anal-sonographisch gezielte ,Botoxtherapie‘ ist seit Jahren die effektivste.“ Die Kinder haben sofort nach dem Eingriff ein positives Empfinden; der für Kind und Eltern belastende Kreislauf ist durchbrochen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2013