Jugendliche und Suchtverhalten: Kampf gegen die Zeit

25.01.2013 | Medizin


Während in Deutschland der langfristige Trend für regelmäßigen Suchtmittelkonsum rückläufig ist, kann eine vergleichbare Trendumkehr in Österreich nicht registriert werden. Experten berichten, dass jährlich bis zu 50 neue Drogen auf den Markt kommen und der Gesetzgeber es kaum noch schafft, die Liste der verbotenen Substanzen zeitgerecht zu aktualisieren.
Von Doris Kreindl

Das Gesundheitsbewusstsein im Hinblick auf den Konsum von Suchtmitteln hat sich bei minderjährigen Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Zu diesem Resultat kommt eine repräsentative Erhebung in Deutschland, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter 12- bis 25-Jährigen zum Konsum von Suchtmitteln seit rund 30 Jahren regelmäßig durchgeführt wird.

Ermittelt wird sowohl der Konsum von legalen Drogen wie Nikotin und Alkohol als auch der von illegalen Suchtmitteln wie etwa Cannabis. Die Studienergebnisse belegen, dass der langfristige Trend im regelmäßigen Suchtmittelkonsum rückläufig ist. Das gilt für vor allem für das Rauchen, für den Cannabiskonsum und auch für Alkohol.

Eine vergleichbare Trendumkehr kann in Österreich nicht bestätigt werden. So sterben jährlich ungefähr 8.000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Ein Drittel der 15-jährigen Mädchen und fast die Hälfte der gleichaltrigen Burschen haben bereits mehrmalige Rausch-Erfahrungen hinter sich. Auch 13-Jährige haben bereits wiederholt Alkoholräusche erlebt: und zwar neun Prozent der Mädchen und 16 Prozent der Burschen. Drei Prozent der 16-Jährigen haben bereits Trinkgewohnheiten, die über der Gefährdungsgrenze liegen. Mehr als ein Drittel hat Erfahrungen mit der illegalen Alltagsdroge Cannabis und sechs Prozent haben irgendwann Ecstasy konsumiert. Eine OECD-Studie zeigt, dass Österreich beim Alkoholkonsum im europäischen Spitzenfeld liegt.

„Der Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendlichen in Österreich ist ohne Zweifel wieder gestiegen. Vor allem ist zu bemerken, dass die Zuwachsraten bei den weiblichen Jugendlichen enorm zugenommen haben“, bestätigt Univ. Prof. Michael Musalek, Ärztlicher Leiter des Anton Proksch-Instituts in Wien. So konnte beispielsweise beim problematischem Alkoholkonsum festgestellt werden, dass es bei den unter 15-Jährigen bereits ein Verhältnis von eins zu zwei gibt, das heißt: auf zwei Burschen kommt bereits ein Mädchen mit problematischem Konsum. Bei den Alkoholkranken Erwachsenen beträgt das Verhältnis ungefähr vier zu eins. Musalek dazu: „Angesichts dieser Zahlen müssen wir in ungefähr 20 Jahren damit rechnen, dass wir auch bei den alkoholkranken Erwachsenen ein Verhältnis von zwei zu eins haben.“

Auch bei der Nikotinabhängigkeit bewegt sich Österreich im Spitzenfeld. Grob geschätzt gibt es hierzulande 1,2 Millionen Nikotin-Abhängige. Dazu kommt, dass mehr als 90 Prozent der Alkohol-Abhängigen auch Nikotin-abhängig sind. Neue Drogen, die auch als Naturprodukte wie Kräutermischungen, Badesalze etc. angeboten werden, dürften in der Suchtszene jedoch keine große Rolle spielen. Diese Substanzen haben zwar das Potential, den Einstieg in eine Sucht zu fördern, sie sind aber so kurzlebig, dass sie – wenn sie einmal auf den Markt kommen – auch oft gleich wieder verschwunden sind. Allerdings berichten Experten, dass jedes Jahr bis zu 50 neue Drogen auf den Markt kommen, so dass der Gesetzgeber es kaum noch schafft, die Liste der verbotenen Substanzen zeitgerecht zu aktualisieren.

Online-Sucht im Steigen

Obwohl es in Österreich zu den Entwicklungen bei der Online-Sucht noch keine nennenswerten wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, sind sich die Experten darüber einig, dass die Zuwachsraten ständig im Steigen begriffen sind. Die Internetsucht gehört zu den Substanz-ungebundenen Süchten und auch für diese gilt, dass der Faktor Verfügbarkeit (laut Statistik Austria besitzen 79 Prozent der österreichischen Haushalte einen Internetanschluss) wie auch bei den Substanz-gebundenen Süchten bei der Entwicklung einer Sucht mit Ausschlag gebend ist. „Vorzugsweise sind dabei Jugendliche betroffen, die sich noch mitten in der sozialen Entwicklung befinden und die aufgrund ihrer Sucht viele Lernprozesse im Sozialverhalten, die notwendig wären, nicht durchlaufen können. Das wirkt sich dann so aus, dass diese Menschen, wenn sie ins Erwachsenenalter kommen, in der Persönlichkeitsentwicklung stecken bleiben und deren soziales Verhalten oft dem eines zehn- bis zwölfjährigen Kindes entspricht“, so Musalek.

Trotz der bekannten Risken wie familiäre Vorbelastung, genetische Faktoren, Entwicklungsprobleme, psychosoziale Belastungsfaktoren konnte noch nicht vollständig geklärt werden, warum Menschen zu Suchtverhalten neigen, andere wiederum nicht. Werner Leixnering, Psychotherapeut an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg in Linz, ist aufgrund seiner beruflichen Erfahrung davon überzeugt, dass hier auch unbewusste Mechanismen sowie Trauma-Erfahrungen eine große Rolle spielen, die man nicht so einfach festmachen könne.

Leixnering weiter: „Das Dramatische ist, dass sehr viele Menschen, darunter auch Jugendliche, die übermäßig Suchtmittel konsumieren, ohne Weiteres darauf angesprochen werden können, dass sie sich gesundheitlich im Sinne einer Selbstzerstörung schädigen und die dann trotzdem weitermachen. Warum das so ist, dazu gibt es für den biographischen Einzelfall leider keine generalisierbaren Erkenntnisse.“ Bei Sucht handle es sich um eine schwerwiegende psychiatrische Krankheit. Im Einzelfall könnten im Rahmen einer Psychotherapie Mechanismen wie etwa die Selbstzerstörungstendenz bewusst gemacht werden. Eine allgemeine, umfassende Theorie, die das Wesen des Suchtverhaltens erfasst und beschreibt, werde es nicht geben können, da jedes Einzelschicksal, auf Basis von Evidenzfällen, gesondert betrachtet werden sollte.

Zunehmend an Bedeutung gewinnt in der Suchttherapie die Früherkennung. Besonders bei der Diagnostik der Alkoholkrankheit geht die Entwicklung dahin, bereits das Frühstadium als Krankheit anzuerkennen. In der Regel wird die Alkoholkrankheit erst im Spätstadium diagnostiziert, wenn schon Entzugserscheinungen auftreten. Dennoch ist der Patient
auch im Frühstadium schon alkoholkrank, auch wenn noch keine Entzugssyndrome
vorhanden sind.

Früherkennung notwendig

Eine wichtige Rolle bei der Früherkennung kommt daher den Hausärzten, aber auch genauso den Fachärzten zu, da sie diejenigen sind, die aufgrund der gesundheitlichen Folgeerscheinungen, die Patienten zuerst zu Gesicht bekommen. Musalek dazu: „In die Suchtklinik kommen die Patienten oft erst dann, wenn die Erkrankung schon drei bis acht Jahre andauert. Das ist sehr spät und jeder Mediziner ist dazu aufgefordert, eine möglichst frühe Diagnose zu erstellen.“ Ärzte sollten aktiv das Gespräch suchen, als Mediator fungieren und ein tragfähiges Vertrauensverhältnis zu den Betroffenen aufbauen. Und Leixnering empfiehlt: „Gerade wenn es sich um einen jungen Patienten handelt, wäre der Aufbau einer Vertrauensbeziehung vonnöten, insbesondere dann, wenn sich bei der Anamnese der Verdacht der Einnahme von illegalen Substanzen erhärtet.“

Bei der Bekämpfung von Süchten werden in der Therapie mittlerweile neue Wege beschritten. War beispielsweise bei Alkoholismus vormals das einzige Therapieziel die Abstinenz, geht man neuerdings dazu über, innerhalb der Therapie Etappen festzulegen. Ausgehend von der Frage, ob die absolute Alkoholabstinenz wirklich das einzig mögliche Therapieziel sein soll, werden Abstinenz-gestützte Programme für die Betroffenen entwickelt. „Die Abstinenz ist natürlich ein wichtiges Behandlungsziel. Aber da dies nicht bei allen Patienten erreicht werden kann, ist bei manchen vorerst auch eine Reduktion der Dosis als Teiletappe sinnvoll.“ So sei etwa auch in frühen Stadien, wenn noch keine körperliche Abhängigkeit mit Abstinenzsyndrom beziehungsweise noch keine schwere psychische Abhängigkeit vorliegt, eine Dosisreduktion zum moderaten Alkoholkonsum als Therapieziel zu überlegen. Letztes und höchstes Therapieziel sei es jedoch immer, wie man dem Patienten wieder den Weg in ein möglichst autonomes, freudvolles Leben ermöglichen kann. Am Anton Proksch-Institut in Wien wurde etwa das Orpheus-Programm (siehe Kasten) entwickelt, das darauf hinarbeitet, eine nachhaltige Verhaltensmodifikation bei den Betroffenen herbeizuführen – dies gilt im Übrigen für alle Patienten mit einer Suchterkrankung.

Sowohl Musalek als auch Leixnering betonen, dass bei der Entstehung von Süchten ganz generell vor allem die verhältnismäßig uneingeschränkte Verfügbarkeit der Suchtmittel wie Tabak und Alkohol, gesellschaftliche Akzeptanz, volkswirtschaftliche als auch sozioökonomische Aspekte die größte Rolle spielen.

Alkohol seit Jahren billiger

Das bestätigt eine EU-Studie zum Alkoholismus in Europa insofern, als in den meisten Ländern der EU alkoholische Getränke seit Mitte der 1990er Jahre viel billiger geworden sind und ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Alkoholkonsums und der Erschwinglichkeit von alkoholischen Getränken besteht. Nach Ansicht der Forscher sind die unerwünschten gesundheitlichen Effekte im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass in der Mehrzahl der EUMitgliedsstaaten die Alkohol-Preispolitik aus fiskalpolitischer und selten aus Public Health-Sicht verstanden und betrieben wird. Die Resultate der Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen, dass die kontinuierlichen Präventionsmaßnahmen wie die Kampagne „Null Alkohol – Voll Power“ oder das Alkoholverbot auf Bahnhöfen, bei der Zielgruppe Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland langsam aber sicher greifen.

Orpheus-Programm – die Details

Das Orpheus-Programm soll durch unterschiedliche Module Patienten zur Neu- und Wiederentdeckung der eigenen Lebenskräfte motivieren – ganz nach dem Motto: Wo das Leben wieder schön, freud- und sinnvoll wird, haben Suchtmittel keine Verführungskraft. Die verschiedenen Orpheus-Module sind: Sensibilitäts- und Sensitivitätsmodule, Aufmerksamkeitsund Achtsamkeitsmodule, Kreativitäts- und Lebensneugestaltungsmodule, Bewegungs- und Kulturmodule sowie Genussintensivierungsmodule.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2013