Interview – Univ. Prof. Reinhart Jarisch: Jeder Vierte leidet an einer Allergie

25.03.2013 | Medizin

Rund 25 Prozent der Bevölkerung leiden an den verschiedensten Formen der Allergien, erklärt der Allergologe Univ. Prof. Reinhart Jarisch im Gespräch mit der ÖÄZ. Allerdings hält er die Versorgungssituation in Österreich in punkto Allergie für denkbar schlecht – er sagt, warum das so ist und was es zu tun gilt.

ÖÄZ: Für Ihre besonderen Verdienste in der Allergologie sind Sie nach Prof. Dietrich Kraft der zweite Österreicher, der von der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie mit der Clemens von Pirquet-Medaille ausgezeichnet wurde. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie persönlich und für die Allergologie im Allgemeinen?
Jarisch: Selbstverständlich ist die Verleihung der Medaille für mich persönlich eine große Ehre und Freude. Vorwiegend freue ich mich jedoch in meiner Funktion als Vorsitzender des Komitees ‚Klinische Allergologie‘ im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie. Ich empfinde die Auszeichnung als Unterstützung für die klinische Allergologie und hoffe, dass dadurch das Bewusstsein unter den Ärzten für die Bedeutung der Allergologie gesteigert werden kann. Bis zur Entdeckung des Immunglobulin E-Antikörpers durch Johansson und Ishizaka im Jahr 1967 hat die Allergologie ein wenig beachtetes Dasein gefristet. Wir wissen heute, dass 25 Prozent der Bevölkerung an den verschiedensten Formen der Allergien leiden und es gilt, diese zu diagnostizieren und entsprechend zu behandeln.

Sie haben vor mehr als 30 Jahren zusammen mit Prof. Manfred Götz in Wien das Floridsdorfer Allergiezentrum gegründet und blicken auf über 200 wissenschaftliche Publikationen zurück. Auf welche Forschungsleistungen sind Sie persönlich besonders stolz?
In meiner Forschungstätigkeit haben mich immer die konkreten Probleme des Patienten beschäftigt. Dabei steht die Sicherheit des Patienten für mich im Vordergrund und dazu hat bestimmt die Antihistaminika-Prämedikation wesentlich beigetragen. Bis mein Forschungs- team und ich vor 20 Jahren die Antihistaminika-Prämedikation inauguriert haben, war die sogenannte spezifische Immuntherapie, also die Allergieimpfung, von einer Reihe von Nebenwirkungen begleitet. Durch die Gabe eines Antihistaminikums spätestens eine Stunde vor der Immuntherapie konnten wir zeigen, dass die Nebenwirkungsquote deutlich sinkt. Es hat mich sehr gefreut, dass im Vorjahr bei der American Academy of Allergy, Asthma and Immunology in Orlando die Antihistaminika-Prämedikation als eine der Hauptmaßnahmen genannt wurde, durch die ein anaphylaktischer Schock verhindert werden kann. Der zweite bahnbrechende Erfolg war unsere Feststellung, dass viele Krankheiten, die scheinbar allergischer Natur sind, sogenannte Intoleranzen sind. So haben wir uns in den letzten Jahren speziell mit der intestinalen Fruktose-, Histamin- sowie Laktose-Intoleranz beschäftigt und große Fortschritte erzielen können.

Sie haben ja als Erster die Histamin-Intoleranz beschrieben. Bei welchen Symptomen sollte der Hausarzt an Histamin-Intoleranz denken?
Die Histamin-Intoleranz ist weder eine Allergie noch eine nicht-immunologische Nahrungsmittelunverträglichkeit, sondern eine Abbaustörung, die durch einen Mangel der Histamin-abbauenden Enzyme Diaminoxidase (DAO) und auch Histamin-N-Methyl- transferase (HNMT) verursacht wird. An Histamin-Intoleranz leiden vornehmlich Frauen im Alter zwischen 35 und 45 Jahren. Die Symptome zeigen sich durch Kopfschmerzen, Rotwein-Unverträglichkeit, niedrigen Blutdruck, Herzrhythmus-Störungen, Verdauungs- beschwerden bis hin zum Durchfall und Schmerzen am ersten Tag der Menstruation. Bei Verdacht auf Histamin-Intoleranz empfiehlt sich in jedem Fall die Überweisung zum Spezialisten. Generell würde ich den Hausärzten empfehlen, immer an eine Allergie oder Intoleranz zu denken, wenn das Krankheitsbild nicht klar ist. Epidemiologisch häufiger verbreitet als die Histamin-Intoleranz ist die intestinale Fruktose-Intoleranz.

Durch welche Symptome zeigt sich die Fruktose-Intoleranz?
Zur Fruktose-Intoleranz gehören folgende Symptome: Blähungen, Blähbauch, Durchfall, Heißhunger auf Süßes und fallweise depressive Verstimmung. Viele Patienten, die eigentlich eine Fruktose-Intoleranz haben, werden im Vorfeld fälschlicher Weise mit Antidepressiva behandelt. Häufig werden bei den Patienten auch psychovegetative Störungen attestiert. Wir konnten zeigen, dass über 80 Prozent der Patienten mit der Diagnose Reizdarmsyndrom eigentlich an einer Fruktose-Intoleranz leiden.

Welche Krankheitsbilder stehen abgesehen von der Histamin-Intoleranz mit Histamin in Verbindung?
Histamin ist die Ursache für viele allergische Reaktionen wie Asthma und Heuschnupfen. Durch unsere Forschungstätigkeit konnte jedoch gezeigt werden, dass auch viele andere Krankheitsbilder durch Histamin verursacht werden. Durch eine Studie, die wir gemeinsam mit der deutschen Marine durchgeführt haben, konnte nicht nur bewiesen werden, dass Histamin der Auslöser der Seekrankheit ist, sondern auch dass Vitamin C-Kautabletten die Seekrankheit beherrschbar machen. Des Weiteren lässt eine unserer Studien vermuten, dass Histamin und Anaphylaxie den plötzlichen Drogentod verursachen. In Österreich sterben pro Jahr circa 200 Drogenabhängige. Oft ist die Todesursache völlig unklar, da prämortal keine Überdosis konsumiert wurde. Wir konnten nachweisen, dass Drogen- süchtige einen drei- bis vierfach erhöhten Basis-Histaminwert haben. Daraus kann man ableiten, dass ein Notarzt, der zu einem Drogensüchtigen gerufen wird, in erster Linie ein Anti-Histaminikum verabreichen sollte.

Vor welchen Herausforderungen steht die Allergologie in den kommenden Jahren und wo sind konkrete Fortschritte zu erwarten?
Medikamentenallergien stellen nach wie vor eine große Herausforderung für den klinisch tätigen Allergologen dar. Auf diesem Gebiet ist sicher noch hoher Forschungsbedarf gegeben. Ebenso sind das irritative und allergische Kontaktekzem sowie insbesondere die Neurodermitis allergologisch abzuklären. Auf therapeutischer Ebene sind in den kommenden Jahren Neuheiten zu erwarten. Die kausale Immuntherapie allergischer Erkrankungen, zuletzt auch Allergieimpfung genannt, ist Gegenstand weiterer Verbesserungen. Faszinierend ist hier eine aus der Schweiz kommende Methode, die aus nur drei Injektionen besteht, die in die inguinalen Lymphknoten verabreicht werden. Dies würde die Allergietherapie geradezu revolutionieren. Anstatt der derzeit empfohlenen 60 Injektionen verteilt auf drei Jahre, würden dann lediglich drei Injektionen ausreichen. Bei Tierallergien wird in einem Therapieansatz ein Impfstoff erforscht, der nicht dem Patienten, sondern dem Tier verabreicht wird, um dessen Allergenität zu reduzieren.

Was wünschen Sie sich als Allergologe für Ihr Fach? Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Grundsätzlich muss man sagen, dass in Österreich die Versorgungssituation in der Allergologie denkbar schlecht ist. Das Floridsdorfer Allergiezentrum ist das ganze Jahr zu 100 Prozent ausgelastet. In der Pollensaison haben wir Wartelisten von 2.000 bis 2.500 Patienten. Vor allem in ländlichen Regionen gibt es wenig Spezialisten. Oft müssen die Patienten mehrere Ärzte aufsuchen, bis die richtige Diagnose gestellt werden kann. Es würde den Krankenkassen viel Geld sparen, wenn der Patient auf Anhieb zu einem fachkundigen Allergologen kommt. Das Problem fängt allerdings schon in der Ausbildung an. Die jungen Ärzte erfahren keine bis fast keine Ausbildung auf dem Gebiet der Allergologie. Es ist für mich unverständlich, dass für ein Krankheitsbild, das jeder vierte Österreicher aufweist, keine entsprechende Ausbildung da ist. Es gibt zur Zeit auch zu wenige ausgebildete Allergologen, die als Lehrer fungieren könnten.

Wie könnte die Ausbildungssituation verbessert werden?

Der Druck muss größer werden, damit auch die Ausbildung besser wird. Von einem eigenen Fach Allergologie halte ich wenig. Ich denke, dass eine zweijährige Zusatz- ausbildung zu einer Facharztausbildung wie Dermatologie, Pädiatrie, HNO oder Pulmologie denkbar wäre. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die jungen Kollegen für den Beruf des Allergologen interessieren. Das ist derzeit wenig der Fall. Man muss als Allergologe einen Hang zur Kriminalistik haben und es mögen, präzise zu arbeiten. Dann ist die Allergologie ein Traumberuf.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2013