Interview – Josef W. Egger: Die Psychologie der Ausbeutung

10.03.2013 | Medizin



Einem anderen kann man nur dann wirklich beistehen, wenn man sich selbst beistehen kann – alles andere führt in die Opferrolle, erklärt Univ. Prof. Josef W. Egger von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Graz. Das Gespräch führte Doris Kreindl.

ÖAZ: Warum soll sich die Medizin mit dem Thema Ausbeutung auch auf der philosophischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ebene beschäftigen?
Egger: Es ist ein alter Hut, dass wir es in der Medizin nicht nur mit Organen zu tun haben, sondern dass das Ziel unserer Bemühungen immer der Mensch als solcher ist. Dieser lebt in einer komplexen Umwelt und die Medizin ist dazu angehalten, sich mit diesen Lebenswelten auseinanderzusetzen. So kann es uns besser gelingen, Krankheiten zu verstehen und nachhaltig zu behandeln. Gerade die Psychiatrie braucht viele Querverbindungen zu den Lebensumwelten. Ich bin der Ansicht, dass es kein sozialwissenschaftliches Phänomen gibt, mit dem sich die Medizin prinzipiell nicht zu beschäftigen hätte. Das Thema Ausbeutung ist daher nicht nur wichtig für die Psychiatrie, sondern für die Medizin insgesamt.

Welche Auswirkungen hat dieser Ansatz auf präventive Maßnahmen?
Der Mensch fühlt, denkt und handelt in einem sozialen und ökologischen Gefüge, das eng mit seiner Gesundheit verbunden ist. Ohne diese Vernetzung lassen sich seine Krankheiten nur reduziert verstehen. Daher kämpfen wir im Fachbereich biopsychosoziale Medizin an der MedUni Graz darum, dass sich die Medizin der Zukunft von einer vorwiegenden Apparatemedizin in Richtung einer Kommunikationsmedizin weiter entwickelt. Damit wird der Arzt zum umfassenden Ansprechpartner und kann die Grenzen einer Reparaturmedizin überwinden.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach Menschen, die sich gerne selbst ausbeuten und warum?
Die Betroffenen würden das nicht so sehen. Ganz im Gegenteil, es hat sich gezeigt, dass diese Menschen zwar unter ihren selbstauferlegten Aufgaben oft leiden, aber ihre Opferhaltung nicht erkennen. Die betroffenen Menschen erliegen einer Verführung, weil eine vermeintliche Belohnung winkt, die mit Anerkennung, Ansehen, Befriedigung des Geltungsbedürfnisses oder einer Imageverbesserung verbunden ist. Das führt dazu, dass sie ihre Kräfte über die Maßen ausnutzen und ausschöpfen. Im häuslichen Bereich sehen wir beispielsweise immer wieder Menschen, die sich für einen ihrer Angehörigen aufopfern und sich dabei gänzlich vernachlässigen. Erst wenn sie in ein massives Burnout hineinschlittern, beginnen sie langsam zu verstehen, dass sie von ihrer eigenen Kraft leben. Wenn diese verbraucht ist, weil sie zu wenig auf sich selber und ihre eigenen Bedürfnisse geachtet haben, werden sie erkennbar selbst zum Opfer.

Warum gelingt es diesen Menschen nicht, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen?

Bei diesen Menschen ist unter anderem der Selbsterhaltungsmechanismus gehemmt. Sie unterliegen der Vorstellung, dass sie gut und keine Egoisten sind, eine bedeutende Aufgabe haben, etwas Wertvolles leisten und dadurch eine Art Lebensberechtigung erwirken – was zwar alles richtig ist, aber in der Dosis massiv übertrieben wird. Dieses Verhalten wird unreflektiert solange aufrechterhalten, bis sich die ersten Krankheitssymptome einstellen. Die Berechtigung mit dieser Aufopferung aufzuhören, wird erst über die eigene Krankheit legitimiert.

Welche Ebenen unterscheidet man bei der Destruktivität von Ausbeutung?

Zu erwähnen wäre da die persönliche Ebene, bei der es um die Selbstausbeutung im Zusammenhang mit der Opferrolle geht. Als Benefit erhält der Betroffene über seine besondere Anstrengung und Leistung Zuwendung. Dieser Zustand wird belohnungsbedingt meist lange Zeit aufrechterhalten. Bei der sozialen Ebene geht es darum, dass jemand für eine bestimmte Ideologie oder für interessensgebundene Idee kämpft und stirbt. Die wirtschaftliche Ebene ist erst in letzter Zeit wieder hochaktuell geworden, weil sich ganze Gruppen von Menschen im Glauben an unrealistische Gewinnmaximierung korrumpieren lassen. Um dem entgegenzuwirken, müsste man sich unter dem Postulat der Gerechtigkeit wieder mehr auf gemeinsame humanistische Werte mit Ausgleich und Umverteilung konzentrieren.

Werden Frauen leichter Opfer von Ausbeutung als Männer?
Ausbeutung ist viel genereller, von jeher da und vielgestaltig, sie lässt sich nicht auf geschlechtsspezifische Perspektiven reduzieren. Es beuten Männer viel mehr Männer aus, natürlich beuten auch Frauen Männer und Männer beuten Frauen aus. Die meisten Frauen haben bei uns heutzutage die Gelegenheit, voll im Berufsleben zu stehen. Gleichzeitig merken sie jedoch, dass sie immer noch nicht dieselben Chancen haben. Solche Verteilungsprozesse sind ohne massive Bruchstellen im sozialen Leben nur sukzessive zu verwirklichen.

Was geht im Ausbeuter vor sich?
Der Ausbeuter sieht seine Berechtigung darin, dass derjenige, der in unserer Gesellschaft lebt und seine Optionen nützt, nicht faul und träge ist. Er fühlt sich dazu angehalten, die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Er sieht sich gewissermaßen immer im Recht: Er ist der Gescheitere, der Mächtigere und hat mehr Optionen als die Anderen. Dieses Überlegenheitsgefühl wirkt gleichzeitig belohnend und vermittelt das Gefühl, über der Menge zu stehen.

Welche Gründe gibt es, sich ausbeuten zu lassen?
Aus der Opferforschung wissen wir, dass es bestimmte Verhaltensweisen gibt, die dazu prädestinieren, zum Opfer zu werden. Wenn jemand zu wenig Autonomie, eine unterentwickelte Streitkultur oder nur geringe Widerstandskompetenz entwickeln konnte, dann ist er, sobald es Dinge zu verhandeln gilt, von vornherein in einer schlechteren Position. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, in ein Ausbeutungsschema zu kommen, groß. Es trifft also häufig immer wieder die gleichen Menschen, die aufgrund ihrer geringen Selbstsicherheit und schwächeren Selbstverteidigungsfähigkeit Gefahr laufen, sich ausbeuten zu lassen. Sie profitieren aber unter Umständen auch von der Macht des Ausbeuters, was eine Emanzipation natürlich erst recht erschwert.

Worauf ist das in der Persönlichkeitsstruktur ursächlich zurückzuführen?

Die Opferrolle hat immer etwas mit dem Selbstwert zu tun. In der Opferrolle bin ich nicht der Täter. Sie impliziert, dass ich der Arme, der Benachteiligte, der Schützenswerte, eher der gute Mensch und eben kein Egoist bin. Ich bin zwar auf der Verliererseite, dafür werde ich aber zumindest ideell belohnt. Es ist hinlänglich bekannt, dass unsere christlichen Religionen beispielsweise den Armen und Ausgebeuteten das Himmelreich versprechen. In Gesellschaften, in denen es nicht gelingt, für ausreichenden Ressourcen-Ausgleich und Gerechtigkeit zu sorgen, züchten wir sozusagen vermehrt ausbeuterische Verhaltensweisen.

Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es?

Nur wenige schaffen es, rechtzeitig und aus eigener Kraft aus einem Ausbeutungsprozess auszusteigen. Im Normalfall nehmen die Betroffenen erst dann eine Therapie in Anspruch, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, in eine Situation der permanenten Erfolgsbedrohung oder des Scheiterns schlittern und sich gravierende gesundheitliche Folgen einstellen. In der Therapie ist es entscheidend, dass der Betroffene zur Ruhe kommt. Er muss lernen Resilienz gegenüber den eigenen und fremden Forderungen zu entwickeln und Rituale aufbauen, in denen immer wieder Erholung und Entspannung möglich sind. Dabei kann sich herausstellen, dass der Betroffene es verlernt hat, sich selbst etwas zu gönnen oder auch einmal faul zu sein. Der entscheidende Punkt ist letztendlich aber die Selbstfürsorge und die damit verbundene Selbstliebe: Ich kann einen anderen nur dann lieben, wenn ich mich auch selbst liebe. Ich kann einem anderen nur dann dauerhaft beistehen, wenn ich mir selbst beistehen kann. Alles andere führt in die Opferrolle.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2013