Interview – Gerhard F. Ecker: Computer als Arzneistoffentwickler

10.02.2013 | Medizin

Primäres Forschungsziel der Pharmakokinetik sei es, den Computer zu nutzen, um den Entwicklungsprozess von Medikamenten zu beschleunigen, erklärt Univ. Prof. Gerhard F. Ecker vom Institut für Pharmako-Informatik am Department für Medizinische/ Pharmazeutische Chemie der Universität Wien im Gespräch mit Barbara Wakolbinger.

ÖÄZ: Sie haben an der Universität Wien einen Lehrstuhl für Pharmakoinformatik. Worum geht es dabei genau?
Ecker: Ziel der Pharmakoinformatik ist die Unterstützung der Entwicklung eines Arzneistoffes durch Informationstechnologie. Wir nutzen Computer, um den Entwicklungsprozess zu beschleunigen, sicherer zu machen, Nebenwirkungen vorherzusagen und Tierversuche einzusparen. Wenn es schon am Computer klare Warnsignale gibt, dass eine Verbindung lebertoxisch sein wird, dann brauche ich gar nicht an der Ratte zu testen. Die Industrie leidet besonders am Anfang üblicherweise nicht unter zu wenigen Substanzen. Das Problem ist vielmehr, dass man erst zu spät bemerkt, dass eine Substanz entweder nicht aktiv genug ist oder Nebenwirkungen zeigt, die man nicht rechtzeitig abschätzen konnte. Je später im Prozess man die Entwicklung einstellen muss, desto teurer wird es.

Wie wird heutzutage ein Arzneistoff entwickelt?

Rund 50 Prozent der Substanzen kommen immer noch aus der Natur oder werden nach natürlichen Vorbildern designed. Der Rest wird vielfach immer noch mit dem High-Throughput-Screening entdeckt. Angenommen, Sie wollen ein neues Lokalanästhetikum entwickeln, dann müssen Sie die Schmerzweiterleitung blockieren. Das geschieht etwa durch Hemmung von Natriumkanälen. Also entwickeln Sie einen Test, um festzustellen, ob eine bestimmte Substanz einen Natriumkanal blockieren kann. Dann wird dieser Test automatisiert und die Substanzbibliotheken der Pharmafirmen, die zwischen ein und zwei Millionen Substanzen enthalten, mit Hilfe von Robotertechnologie getestet. Mit den 3.000 bis 4.000 Treffern arbeiten Sie weiter. Hier ist die Pharmakoinformatik schon sehr stark involviert.

Und zwar wie?

Wir können zum Beispiel aus diesen 1,5 Millionen rund 10.000 repräsentative Substanzen selektieren. Auf Basis deren Reaktion wird am Computer ein Modell generiert. Dann werden die 1,5 Millionen nicht mehr in der Realität, sondern nur noch am Computer gescreent. Die vielversprechendsten Verbindungen werden anschließend biologisch getestet. Das ist schneller, effizienter und kostengünstiger.

Wird es in Zukunft möglich sein, Tierversuche komplett zu ersetzen?

Ich würde sagen vielleicht großteils. Da bin ich sehr vorsichtig, denn wirklich vorherzusagen, wie eine bestimmte Substanz auf einen lebenden Organismus wirkt, ist sehr komplex. Die Prognose, wie eine Substanz auf eine bestimmte Gruppe von ‚Targets‘, also Proteine, wirkt, ist dagegen schon möglich. Gleiches gilt für die Bioverfügbarkeit, also das Verhalten der Substanz. Etwa: Wie wird sie in der Leber abgebaut oder im Körper metabolisiert? Aber das sind alles nur Vorhersagen; die Modelle haben üblicherweise eine Genauigkeit von etwa 80 Prozent. Das heißt, es gibt immer eine gewisse Unsicherheit. Allerdings gibt es erste Ansätze, die den Effekt  auf ein gesamtes Organ, etwa dasHerz, vorhersagen können. Dazu muss ich zunächst die Affinität der Substanz auf alle Ionenkanäle im Herzen vorhersagen. Wenn ich dieses Profil kenne, kann ich mir ausrechnen, wie das Aktionspotenzial aussehen wird. Das lässt dann Prognosen für das EKG zu und zeigt damit, wie sich die Substanz auf die Schlagkraft und die Schlagfrequenz des Herzens auswirken wird.

Ein Arzneistoff wird also Stück für Stück am Computer zusammengesetzt?
Ich kann immer fragen, an welchen Stellen ich chemisch gesehen ‚spielen‘ kann, damit die Substanz noch aktiver wird. Parallel dazu weiß ich aber auch, was die Substanz alles nicht machen sollte. Sie sollte etwa nicht den hERGKanal blockieren, sonst habe ich Kardiotoxizität. Ich muss also beides in Einklang bringen: Ich will am ‚Target‘ aktiver, aber am hERG weniger aktiv sein. Dazu kommen Metabolismus, Löslichkeit und Bioverfügbarkeit. Das ist eine Multiparameter-Optimierung, in der wir uns bewegen.

Ist die Vorhersagbarkeit Ihr primäres Forschungsziel?
Unser primäres Forschungsziel ist Verständnis. Aber die Vorhersage wird immer wichtiger. Das haben wir in unseren Forschungen zum Bindungsmodus von Valium gesehen. Nach 50 Jahren Valium am Markt glauben wir nun zu wissen, wie Diazepam tatsächlich am Benzodiazepin-Rezeptor bindet. Im Vordergrund steht also das Verständnis der Aktivität und Bindung der Substanz. Oder die Frage, warum ist eine andere Substanz nicht aktiv. Wenn das Modell stimmt, muss es aber auch Vorhersagekraft haben. Das lässt sich nicht mehr entkoppeln: Ich muss ein Modell haben, das nicht nur in der Lage ist, zu erklären, was man weiß, sondern auch, Vorhersagen zu machen, die auch eintreffen. Damit kann man wie im Fall von Valium eine strukturell völlig neue Verbindung vorhersagen. Die muss man dann natürlich testen. Wir haben kein Projekt ohne experimentelle Partner. Wir machen nichts nur am Computer. Weil es ist ganz klar: Was wir hier generieren, das sind nur Hypothesen. Zum Schluss zählt nur das Experiment.

Womit beschäftigen Sie sich derzeit?
Unser Hauptforschungsgebiet sind Arzneistoff-Transporter. Da geht es primär darum, herauszufinden, wie sie funktionieren. Arzneistoff-Transporter sind eine spezielle Klasse von Transportproteinen, die in der Zellmembran sitzen. Sie transportieren Substanzen, die eigentlich nicht in die Zelle kommen sollten, wieder hinaus und schützen so die Zelle. Wir haben diese Transporter etwa in der Darmschleimhaut, aber auch an der Blut-Hirn-Schranke. Das Problem ist, Transporter sitzen auch auf Tumorzelloberflächen und nachdem Tumortherapeutika sehr oft zellschädigend konzipiert sind, laufen auch sehr viele Arzneistoffe über diese Transporter. Das bedeutet, ich behandle den Patienten, habe vielleicht einen guten Erfolg, behandle mit einem zweiten Zyklus, einem dritten und dann wehrt sich die Zelle, indem sie einfach den Transporter in der Expression hochreguliert. Was ich dann klinisch sehe, ist Resistenz. Hemmt man den Transporter, dann wäre man mit den klassischen Tumortherapeutika wieder im Geschäft. Auch bei Arzneistoff-Interaktionen ist das interessant. Es wird zum Beispiel ein Arzneistoff verschrieben, der eigentlich ein Substrat des Transporters ist und deshalb hinaustransportiert wird. Er muss also höher dosiert werden. Gleichzeitig nimmt der Patient aber einen Arzneistoff, der den Transporter hemmt. So kommt der Arzneistoff, der eigentlich hinaustransportiert werden sollte, auch in den Organismus und sie haben plötzlich eine wesentlich höhere Konzentration. Und die ersten Nebenwirkungen.

Was werden die nächsten großen Entwicklungsschritte bringen?
Was uns in Zukunft zunehmend interessieren wird, ist individualisierte Medizin. Vorherzusagen, wie eine Substanz auf einen lebenden Organismus wirkt, ist eine Sache, die Prognose, wie sie auf ein Individuum wirkt, ist noch ganz eine andere. Um wirklich effizient zu behandeln, muss ich eigentlich die genetischen Profile meiner Patienten kennen. Dazu reichen heute ein paar Milliliter Speichel. Dann wissen Sie, ob Ihr Patient zum Beispiel, wie zehn Prozent der Bevölkerung Europas, ein ‚poor metabolizer‘ ist. Das bedeutet, er metabolisiert 20 bis 30 Prozent der gängigen Arzneistoffe deutlich langsamer. Das sieht man den Leuten nicht an, aber wenn sie eine normale Dosierung nehmen, dann haben sie nach drei, vier Tagen eine Überdosierung. In diesem Bereich könnte man viel machen, aber dann muss man natürlich die ethische Diskussion um den Umgang mit genetischen Daten führen.

Das klingt schon fast ein bisschen nach Science-Fiction?

In Deutschland gibt es bereits Pilotversuche, in denen man die Bevölkerung rund um ein Spital genotypisiert, um deutlich zielgerichteter therapieren zu können. Wenn ich die technischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte betrachte, will ich nicht wissen, wo wir in 20 Jahren sein werden. Das heißt, ich will es schon wissen, aber ich wage es nicht vorauszusagen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2013