Populationsstudie Bruneck: Gesundheit in der Langzeitperspektive

25.05.2013 | Medizin

Um 17 Prozent hat die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den letzten 20 Jahren abgenommen. So lautet eines der Ergebnisse einer der am längsten andauernden epidemiologischen Populationsstudien, die nach dem Vorbild der US-amerikanischen Framingham-Studie konzipiert wurde. Von Barbara Wakolbinger

Mitten im Südtiroler Pustertal – umgeben von hohen Bergen – liegt die Kleinstadt Bruneck. Rund 15.000 Menschen leben in der mehr als 750 Jahre alten Stadt, die den kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Tals bildet. Bruneck ist aber nicht nur für seine landschaftliche Schönheit und die mittelalterliche Burg bekannt, sondern auch für eine stagnierende Zahl an Diabetes-Erkrankungen, ein in den letzten 20 Jahren um 17 Prozent reduziertes Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Entdeckung von neuen Biomarkern für Typ 2-Diabetes, Atherothrombose und Tumorentstehung. Denn die Kleinstadt Bruneck ist seit 1990 Ausgangspunkt einer epidemiologischen Populationsstudie mit 1.000 Teilnehmern der Medizinischen Universität Innsbruck und des Gesundheitsbezirks Bruneck.

Jeweils 500 Männer und Frauen im Alter von 40 bis 79 Jahren wurden 1990 per Zufall ausgesucht, erzählt Univ. Prof. Johann Willeit von der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, einer der Initiatoren der Studie. Dass dann tatsächlich 936 der 1.000 Probanden zur ersten Basisuntersuchung kamen, macht einen großen Prozentsatz des Erfolgs der Studie aus, ist Willeit überzeugt. Denn die Bindung zum örtlichen Krankenhaus sei groß, die schnelle und professionelle Abwicklung hätte die Menschen zusätzlich überzeugt. In einer gründlichen Anamnese wurden die Daten und Krankengeschichten der Probanden aufgenommen; man befragte sie zu ihren Ernährungs- und Lifestyle-Gewohnheiten. Weiters wurden eine Blutabnahme, ein EKG, ein Ultraschall und noch andere Untersuchungen durchgeführt. Als Vorbild diente die US-amerikanische Framingham-Studie, im Rahmen derer die Bevölkerung des Ortes in Massachusetts systematisch untersucht wurde, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den USA die häufigste Todesursache darstellen.

Der Fokus der Untersuchungen in Bruneck hingegen wurde auf Gefäßerkrankungen und dabei ganz besonders auf Arteriosklerose gelegt. Daher kam auch das zu diesem Zeitpunkt neu entwickelte Verfahren des hochauflösenden Ultraschalls unter anderem der Carotis zum Einsatz.

Eine Studie mit 1.000 Probanden wäre an sich nichts Ungewöhnliches – allerdings legten Willeit und sein Partner im Krankenhaus Bruneck, Friedrich Oberhollenzer, die Studie prospektiv an. Alle fünf Jahre baten sie die Probanden erneut zu den Tests – und die Brunecker kamen. „Wir haben uns auf die Einflussfaktoren für die Entstehung und Entwicklung von Arteriosklerose konzentriert, aber auch auf die Faktoren für Progression. Wir haben uns gefragt: Warum bleibt ein Plaque zehn Jahre stabil und rupturiert dann plötzlich? Da konnten wir einiges beitragen“, so Willeit. Vor allem Daten von Frauen waren in den 1990er-Jahren noch eine Seltenheit. Inzwischen ist die so genannte Bruneck-Studie eine der am längsten andauernden Populationsstudien der Welt.

Aber Willeit und sein Team haben nicht nur untersucht; gleichzeitig wurde versucht, Aufklärung in Gesundheitsfragen zu leisten. So wurden Informationstage veranstaltet, Broschüren für die gesamte Stadt herausgegeben und Beratungsgespräche mit den Probanden geführt. Ob die Brunecker Bevölkerung nun gesünder ist, bleibt wissenschaftlich fraglich. „Denn dazu fehlt uns die Kontrollgruppe“, meint Willeit. Fest steht jedoch, dass in den letzten 20 Jahren Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 17 Prozent gesunken sind und gewisse Risikofaktoren deutlich abgenommen haben. Auch die Zahl der Diabetes-Fälle nimmt – ganz im Gegensatz zum allgemeinen Trend in Europa – in Bruneck nicht zu. „Wenn ich konsequent aufkläre und informiere, ist ein Effekt sicher nachzuweisen“, sagt Willeit. Das besage auch eine ähnlich konzipierte Populationsstudie in Oxford. Bruneck könnte in gesundheitspolitischen Fragen also Vorbild werden.

Das ist aber nur ein Teil der Arbeit in Südtirol: 135 Originalarbeiten wurden inzwischen auf Grundlage der Brunecker Daten publiziert. Hat man sich am Anfang vor allem auf Arteriosklerose-Risikofaktoren und die Biologie der Plaque-Entwicklung konzentriert, ist die Zahl der Fragestellungen stetig gestiegen. Mittlerweile gibt es Publikationen zu M. Parkinson und Migräne, aber auch zum Restless Legs-Syndrom. Inzwischen stehen auch Ernährung und Stoffwechselerkrankungen im Fokus der Mediziner. Eines der neuesten Ergebnisse ist die starke Korrelation zwischen dem Protein RANKL und der Entstehung von Typ 2-Diabetes. Zusammen mit international renommierten Labors und Forschern konnte das Team um Willeit schließlich nachweisen, dass das Knochenstoffwechsel-Protein entscheidend an der Entstehung von Diabetes beteiligt ist. Diese Erkenntnis könnte die Behandlung und Prävention der Krankheit maßgeblich beeinflussen. „Je besser ich etwas voraussagen kann, desto besser kann ich vorbeugen. Das sind Fragen, die eine klassische Querschnittsstudie niemals beantworten kann“, nennt Willeit die Vorteile der Bruneck-Daten.

Ein weiteres Forschungsgebiet ist die Zellalterung: Hier hat man die stetige Verkürzung der Telomere bei der Teilung der Zellen als ernst zu nehmenden Faktor ausgemacht. Erreichen die Telomere eine kritische Länge, steigt das Risiko für eine Tumorbildung und inzidente kardiovaskuläre Erkrankungen. Beide Ergebnisse wurden in internationalen Top-Journals publiziert.

Arteriosklerose-Forschung: neuer Score

Aber auch mit Gefäßerkrankungen befassen sich die Forscher in Bruneck immer noch; derzeit werden Daten zu protektiven Faktoren bei Arteriosklerose analysiert. Die Frage, warum manche 90-jährigen Probanden keine Verkalkungen haben, beschäftigt die Wissenschafter. Die Auswertung läuft noch, aber die Ernährung spiele vermutlich eine wesentliche Rolle, meint Willeit. Die gesammelten Ergebnisse der Arteriosklerose-Forschung sollen auch in einen neuen Score zur Risikobewertung bei Gefäßerkrankungen einfließen. Bis heute zählen zwar etwa Hypertonie und Diabetes auf dem Score als Punkte; eine Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Verkalkungen ist aber kein fester Bestandteil. Das wollen Willeit und sein Team ändern.

Im Laufe der Jahrzehnte hätten sich natürlich immer wieder neue Fragestellungen aufgetan, erzählt Willeit. Das Datenmaterial gibt auch fast immer eine Antwort. „Die über 900 Probanden wurden ganz exakt charakterisiert. Wir haben sehr präzise Daten. Das kann man nicht mit anderen Studien vergleichen, die über ausgesendete Fragebögen Daten erhoben haben“, so Willeit. Heute sind die Probanden zwischen 60 und 100 Jahre alt. Einige Teilnehmer sind inzwischen verstorben; über die Zukunft der Studie muss also nachgedacht werden. Es wäre schade, die vorhandene Infrastruktur aufzugeben, befindet Willeit, der derzeit an neuen Kooperationen und Anträgen arbeitet. Einerseits möchte er seine Studie auf die jüngere Bevölkerung ausdehnen, andererseits den Fokus auch auf Lebensqualität, Behinderungen und Erkrankungen im fortgeschrittenen Alter legen. Bruneck soll auch in Zukunft eine außergewöhnliche Kleinstadt bleiben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2013