Autoaggression von Jugendlichen: Stressabbau der anderen Art

10.04.2013 | Medizin

Den Hauptgrund, weshalb vor allem Jugendliche autoaggressives und aggressives Verhalten praktizieren, stellt eine Affektregulation im Sinne einer Entlastung und Beruhigung dar, die mit der Verletzung einhergeht. Die Ursachen für solche Handlungen sind psychische Traumata, soziale Vernachlässigung oder Gewalterfahrungen. Von Veronika Missbichler

Rund ein Viertel aller Jugendlichen hat sich zumindest ein bis zwei Mal selbst Verletzungen zugefügt, bei einem Großteil von ihnen bleibt diese autoaggressive Verhaltensweise jedoch eine Ausnahme. „Kommt es allerdings innerhalb eines Jahres zu mehr als viermaligen, absichtlich selbst zugefügten Schädigungen an der Körperoberfläche, so wird von einer ernst zu nehmenden Erkrankung gesprochen. Vorausgesetzt, die Verletzungen sind aus sozial nicht akzeptierten Gründen und ohne Suizidintention entstanden“, erklärt Christian Kienbacher von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien. „Während der nicht-suizidalen Selbstverletzung bisher geringere Achtung geschenkt und sie als Suizid-Versuch gewertet wurde, rückt sie heutzutage immer mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit“, so Kienbacher weiter.

Bei Aggression und Autoaggression unterscheidet sich die Zahl der Betroffenen geschlechtsspezifisch: Während Mädchen eher zu selbstverletzendem Verhalten neigen, tendieren Burschen vermehrt zu aggressivem Verhalten anderen Personen gegenüber. Was das autoaggressive Verhalten in der Gesamtbevölkerung anlangt, sind 0,7 Prozent davon betroffen. Die häufigste Verletzung dabei ist mit 64 Prozent das Aufschneiden der Haut mit einer scharfen Klinge („Ritzen“), wobei Frauen zwei- bis neunmal häufiger zu Selbstverletzungen neigen als Männer. Die am stärksten betroffene Altersgruppe ist jene zwischen zehn und 16 Jahren; bei den 13- bis 14-Jährigen ist das Risiko besonders hoch.

Als eine der Ursachen für nicht-suizidale Selbstverletzungen nennt Kienbacher die Ansteckung durch die Peer-Group, wie es beispielsweise beim Aufkommen der „EMOs“ der Fall war. „EMO“ steht für „Emotional Hardcore“ und bezeichnet eine Jugendkultur, deren Mitglieder sich als besonders sensibel und gefühlsbetont verstehen. Kienbacher dazu: „Sie stehen nicht selten offen zu ihren autoaggressiven Handlungen, die als Ausdruck ihrer Verzweiflung und Trauer zu sehen sind.“ Eine weitere Ursache für autoaggressives Verhalten sind nach Angaben des Experten individuelle psychische Belastungen der Betroffenen. Darunter fallen unter anderem kumulative Traumata, Vernachlässigung, Gewalterfahrungen, soziale Isolation oder Trennungs- und Verlusterlebnisse. Auch Jugendliche von psychisch kranken Eltern oder mit somatischen Beschwerden tendieren verstärkt zu nicht-suizidalen Selbstverletzungen. „Häufig versuchen Jugendliche, die an Diabetes Typ 1 leiden, sich selbst über Insulin-Spritzen Schaden zuzufügen“, berichtet Kienbacher aus der Praxis. Gesondert zu betrachten sind hingegen geistig behinderte, psychotische Patienten und Drogenintoxikierte.

„Besonders die Angst-motivierte Aggression ist bei aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen stark vertreten“, weiß Sabine Zehetbauer von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Innsbruck. Diese Art der Aggression dient in erster Linie der Abwehr von empfundener Bedrohung. Häufig führen auch psychiatrische Komorbiditäten zu aggressivem Verhalten sowie individuelle psychische Belastungen.

Aggressive Handlungen äußern sich größtenteils durch Störungen des Sozialverhaltens, Mobbing oder Delinquenz. Kienbacher präzisiert: „Von einer ernst zu nehmenden Erkrankung ist die Rede, wenn das wiederholte und durchgängige, schwere dissoziale, aggressive und aufsässige Verhalten seit über sechs Monaten besteht.“ Dabei unterscheidet man zwischen Aggressionen, die primär auf die Familie bezogen sind und solchen, die sich gegen eine gleichaltrige Gruppe richten. Zehetbauer ergänzt: „Man muss auch unterscheiden zwischen kollektiver und individueller Aggression.“ Letztere umfasst impulsives, unkontrolliertes, feindseliges Verhalten, das mit hoher Emotion verbunden ist und den Aussagen des Experten zufolge eine komplexere Behandlung erfordert. Von kollektiver Aggression spricht man, wenn mindestens zwei Personen involviert sind und diese gleich gerichtete, wenn auch nicht zwangsmäßig gleichartige, aggressive Handlungen auf eine oder mehrere Personen oder Dinge ausüben. Die Beteiligten handeln hierbei aktiv als Mitglied einer Gruppe und nicht als individuelle Personen.

Verletzung als Entlastung

Kienbacher führt weiter aus: „Der Hauptgrund, weshalb vor allem Jugendliche autoaggressives und aggressives Verhalten praktizieren, stellt eine Affektregulation im Sinne einer Entlastung und Beruhigung dar, die mit der Verletzung einhergeht.“ Während einer nicht-suizidalen Selbstverletzung verspüren die Betreffenden keinerlei Schmerz, sondern es kommt zu einer Freisetzung endogener Endorphine, wodurch eine Spannungsabfuhr und Stressabbau ermöglicht werden.

Bei der Behandlung und beim Umgang mit autoaggressiven und aggressiven Jugendlichen generell sei „ruhiges, unaufgeregtes Verhalten und gedrosselte Neugier“ angebracht, betont Kienbacher. Man solle nicht in Panik verfallen und auch nicht zeigen, dass man möglicherweise von diesem Verhalten geschockt sei. „Auch jegliche Formen von Drohungen und übertriebenen Aktionismus sind zu unterlassen“, weiß Zehetbauer. Nach einer entsprechenden Wundversorgung müssen negative Kognitionen identifiziert werden, um anschließend adäquate Strategien zum Stressabbau – wie beispielsweise Sport, Atemtechniken oder Musik – zu entwickeln. Handelt es sich um eine massive nicht-suizidale Selbstverletzung, ist eine stationäre Behandlung unumgänglich.

Bei einem erst- und einmaligen Erlebnis mit oberflächlicher Verletzung und kleinen Hautdefekten sollte der Patient weiterhin vom Arzt beobachtet werden, sagt Kienbacher. Hier spiele besonders eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung eine bedeutsame Rolle. „Nur in einer solchen Atmosphäre besteht für den Arzt die Möglichkeit, herauszufinden, welches Belastungsmoment hinter dem Verhalten steht.“ Kommen nicht-suizidale Selbstverletzungen häufiger vor, ist eine Überweisung an einen Spezialisten notwendig. Denn oftmals sind sowohl autoaggressives als auch aggressives Verhalten von Jugendlichen ein Hilfeschrei, der die letzte Möglichkeit darstellt, den für sie unerträglichen Stress abzubauen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2013