Arbeits­me­di­zin: Prä­ven­tion an ers­ter Stelle

15.07.2013 | Arbeitsmedizin, Medizin


Der eine ist freier Arbeits­me­di­zi­ner, die andere betreut als ange­stellte Arbeits­me­di­zi­ne­rin 7.000 Mit­ar­bei­ter in einem Kon­zern. Das Ziel von Harald Regens­bur­ger und Eva Höltl ist aber das glei­che: jedem Arbeit­neh­mer ein lan­ges und gesun­des Arbeits­le­ben zu ermög­li­chen.
Von Bar­bara Wakolbinger

Harald Regens­bur­ger ist unter­wegs nach Graz. Drei Unter­neh­men betreut der Land­arzt aus Gurk als freier Arbeits­me­di­zi­ner, einen Tag pro Woche hat er dafür ein­ge­plant. Die Her­aus­for­de­run­gen sind dabei so unter­schied­lich wie die Fir­men selbst: Neben einem US-ame­ri­ka­ni­schen Groß­kon­zern der IT-Bran­che, der eine For­schungs­de­pen­dance in Vil­lach ein­ge­rich­tet hat, ist Regens­bur­ger auch in einer Braue­rei und einem Klein­be­trieb, einer Dach­de­cke­rei und Zim­me­rei, tätig. Vom gro­ßen Prä­ven­ti­ons­pro­gramm bis hin zur rich­ti­gen Zusam­men­stel­lung des Erste Hilfe-Kas­tens für Ver­let­zun­gen bei der Arbeit mit Holz muss er an alles den­ken. „Am wich­tigs­ten ist eine gute Aus­bil­dung”, ist Regens­bur­ger über­zeugt. Und die Bereit­schaft, auch ein biss­chen aus der Box zu den­ken. „Ich habe meine Steh­zeit als arbeits­lo­ser Jung­me­di­zi­ner genutzt, um Sport- und Umwelt­me­di­zin­aus­bil­dun­gen zu absol­vie­ren und mir auch etwa Chi­ro­prak­ti­ker-Kennt­nisse anzu­eig­nen”, erzählt er.

Schon bei sei­nem Arbeits­ein­stieg kamen ihm die­ses „All­roun­der­tum” und ein gewis­ses Inter­esse an Mate­ri­al­kunde und Pro­duk­ten zu Gute. Der Anfang als freier Arbeits­me­di­zi­ner war trotz­dem nicht ein­fach, erin­nert sich Regens­bur­ger. Für den ers­ten „Fuß in der Türe” war dann doch auch ein biss­chen Glück nötig: Für einen Kon­zern orga­ni­sierte er einen Erste Hilfe-Kurs, zwei Tage spä­ter kol­la­bierte der Geschäfts­füh­rer wäh­rend eines Mee­tings – „und alle wuss­ten genau, was sie zu tun haben”. Einen Mit­ar­bei­ter einer Schlos­se­rei quäl­ten dage­gen die Nach­wir­kun­gen eines Schi-Unfalls – auf­grund sei­ner Sport­me­di­zi­ner-Aus­bil­dung konnte Regens­bur­ger Tipps geben. Am nächs­ten Tag war der Betriebs­arzt-Brief­kas­ten voll bis zum Rand. Inzwi­schen hat er keine Pro­bleme mehr, Auf­träge an Land zu zie­hen. „Fle­xi­bi­li­tät ist wich­tig”, schil­dert Regens­bur­ger. Man muss nicht immer in Anzug und Kra­watte erschei­nen, sich dafür umso bes­ser die Spra­che der Mit­ar­bei­ter aneignen. 

Völ­lig anders hin­ge­gen die Situa­tion von Arbeits­me­di­zi­ne­rin Eva Höltl: Ihr Arbeits­platz liegt mit­ten in Wien im ers­ten Bezirk. Im Büro­turm der Erste Bank betreut sie gemein­sam mit meh­re­ren Kol­le­gen 7.000 Mit­ar­bei­ter – nicht nur eine logis­ti­sche Her­aus­for­de­rung. Vor ihrem Ein­stieg als Lei­te­rin des Gesund­heits­zen­trums hat sie für ein arbeits­me­di­zi­ni­sches Zen­trum viele ver­schie­dene Kun­den betreut – von Kanal­ar­bei­tern bis hin zum Rei­ni­gungs­per­so­nal. Einen Job, der vor­wie­gend aus Schreib­tisch- und Bild­schirm­ar­bei­ten besteht, konnte sie sich zuerst gar nicht vor­stel­len. „Aber ich habe es nie bereut. Es macht einen gro­ßen Unter­schied, ob man ein­zelne Betriebe als ‚Externe’ betreut oder Teil einer Orga­ni­sa­tion ist”, berich­tet sie. Mit der Posi­tio­nie­rung des Gesund­heits­zen­trums als eigene Stab­stelle des Vor­stan­des ist es Höltl defi­ni­tiv gelun­gen, Teil des Unter­neh­mens zu wer­den. Lau­fende Berichte an den Vor­stand gehö­ren ebenso zu ihren Auf­ga­ben wie die Ent­wick­lung von Gesund­heits­stra­te­gien und Gesund­heits­kon­zep­ten. „Natür­lich bege­hen wir auch Arbeits­plätze. Aber die eigent­li­che Auf­gabe geht viel tie­fer in die Orga­ni­sa­tion und ihre Abläufe hin­ein.” Dabei ste­hen etwa die Wie­der­ein­glie­de­rung von Mit­ar­bei­tern nach lan­gen Kran­ken­stän­den oder arbeits­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Fra­gen wie Pau­sen­re­ge­lun­gen im Vordergrund. 

Die Kon­zepte schei­nen zu wir­ken: 15.000 bis 16.000 Kon­sul­ta­tio­nen ver­zeich­net das Gesund­heits­zen­trum jähr­lich, auch bei den Prä­ven­ti­ons­pro­gram­men wie etwa Ent­span­nungs­tech­ni­ken und Bewe­gungs­übun­gen gibt es laut Höltl „extrem hohe” Betei­li­gungs­quo­ten. Und das, obwohl das Zen­trum nur orga­ni­siert – zah­len müs­sen die Mit­ar­bei­ter selbst. „Unser erklär­tes Ziel ist es, Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, in denen Mit­ar­bei­ter mög­lichst lange gesund blei­ben bezie­hungs­weise ihre Erwerbs­fä­hig­keit erhal­ten bleibt, sagt Höltl.

Das gewisse Extra

Prä­ven­tion und Extra-Pro­jekte statt rei­nem Absit­zen von Betrie­b­arzt­stun­den ste­hen auch bei Harald Regens­bur­ger auf dem Pro­gramm. Für sei­nen Soft­ware-Kon­zern ent­wi­chelte er ein eige­nes umfas­sen­des Prä­ven­ti­ons­pro­gramm: Von einem 800-Kalo­rien-Menü in der Kan­tine über Sport­pro­gramme bis hin zu einer Gesund­heits­mappe, in der alle wich­ti­gen Doku­mente gesam­melt werden.

Als freier Arbeits­me­di­zi­ner kann man aller­dings nicht von vorn­her­ein auf die Betei­li­gung der Mit­ar­bei­ter und der Geschäfts­füh­rung set­zen. „Man muss eine Ver­trau­ens­ba­sis schaf­fen”, erklärt Regens­bur­ger. Dazu muss man zuerst das alt­her­ge­brachte Rol­len­bild über Bord wer­fen, als Betriebs­arzt in einem eigens dafür aus­ge­schil­der­ten Raum zu sit­zen und zu war­ten, bis die Mit­ar­bei­ter von selbst kom­men. „Ich muss auch zum Arbeits­platz hin­ge­hen und wis­sen, was der Ange­stellte oder Arbei­ter dort macht.” Anony­mi­tät und Dis­kre­tion sind ohne­hin selbst­ver­ständ­lich – zu jedem Zeit­punkt muss der Mit­ar­bei­ter sicher sein, dass er sich in einer geschütz­ten Posi­tion befin­det. Ein schall­dich­ter Raum, gerne ein biss­chen abge­schie­den, und die Bereit­schaft zum Gespräch hel­fen. „Oft muss man als Betriebs­arzt auch die Par­tei des Mit­ar­bei­ters ergrei­fen, der in die­sem Fall der Schwa­che ist”, erklärt Regens­bur­ger. Im End­ef­fekt ren­tiere sich jeder in Prä­ven­tion inves­tierte Euro drei­fach – in weni­ger Kran­ken­stands­ta­gen und durch kon­stan­tere Arbeits­leis­tung. „Das muss man auch den Chefs klar machen”.

Mit ihrem Gesund­heits­zen­trum hat Eva Höltl das schon seit eini­gen Jah­ren erreich: egal ob Lehr­lings­prä­ven­tion, Gesund­heits­schu­lun­gen für Füh­rungs­kräfte oder Spe­zi­al­proramme wie zum Bei­spiel ein Rheu­ma­scree­ning mit anschlie­ßen­der Bera­tung bei Bild­schirm­ar­bei­tern in Koope­ra­tion mit der Abtei­lung für Rheu­ma­to­lo­gie im AKH Wien. „Sowohl von der Unter­neh­mens­lei­tung als auch von den Mit­ar­bei­tern gibt es eine sehr hohe Akzep­tanz.” Auch auf zeit­wei­lige Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen oder Leis­tungs­ein­bu­ßen wird adäquat reagiert, damit Mit­ar­bei­ter nicht in eine so genannte „Min­der­leis­ter­spi­rale” kip­pen, an deren Ende meis­tens der Antrag auf Früh­pen­sion steht. Den­noch gibt es etwas, was für die Arbeits­me­di­zi­ne­rin noch bes­ser funk­tio­nie­ren könnte. „Ich wün­sche mir eine Zusam­men­ar­beit zwi­schen Arbeits­me­di­zi­nern und dem nie­der­ge­las­se­nen Bereich, die gibt es momen­tan noch kaum”, sagt sie. „Krank­heit und Gesund­heit pas­sie­ren ja meis­tens par­al­lel, obwohl unser Sys­tem nur ent­we­der oder kennt.” Gerade im Hin­blick auf stei­gende Zah­len bei der Früh­pen­sio­nie­rung und immer mehr chro­ni­schen Erkran­kun­gen brau­che es in man­chen Fäl­len die Koope­ra­tion zwi­schen Ver­trau­ens­arzt und Betriebs­arzt. „In Zei­ten wie die­sen kann der Arbeits­me­di­zi­ner nicht nur Ses­sel eva­lu­ie­ren”, ist sie über­zeugt. Natür­lich „soll und muss” der kura­tive Bereich beim Haus­arzt blei­ben; für die Schaf­fung von guten, pas­sen­den und damit gesund­heits­för­der­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen im Beruf brau­che es aber die Zusammenarbeit.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 13–14 /​15.07.2013