Antidepressiva bei Kindern: Gratwanderung im Off-Label-Bereich

15.07.2013 | Medizin

Weil Kinder Psychopharmaka schneller metabolisieren als Erwachsene, benötigen sie im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht höhere Dosen. Wie man sich bei der Off-Label-Verschreibung von modernen Psychopharmaka am besten rechtlich absichert, erfährt man in einem Seminar auf den diesjährigen Ärztetagen in Velden.Von Barbara Wakolbinger

Depression, Zwangs- und Essstörungen oder Angstzustände: Das Einsatzgebiet für Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen ist breit. Allerdings ist die Gabe von Psychopharmaka in diesem Alter nicht unproblematisch: Für kaum ein modernes Antidepressivum bei beispielsweise SSRIs oder SNRIs gibt es Zulassungen für die Behandlung unter 18 Jahren. „Wir bewegen uns daher in der Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen meist im Off-Label-Bereich“, erklärt Christian Kienbacher, Leiter der Tagesklinik der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien am AKH. Das geht nicht nur mit einer verstärkten Aufklärungspflicht für den Arzt, sondern auch möglichen rechtlichen Konsequenzen, die Kienbacher bei den 16. Ärztetagen in Velden vorstellen wird, einher.

Für die Behandlung bei Kindern zugelassen sind dagegen alte trizyklische oder tetrazyklische Antidepressiva, berichtet der Experte. „Allerdings haben diese oft Nebenwirkungen, die man eigentlich keinem Kind zumuten möchte.“ Ein modernes Medikament zu verweigern und schwere Nebenwirkungen bis hin zur Blutbildveränderung in Kauf zu nehmen, könnte als Kunstfehler gewertet werden. Verschreibt der Arzt allerdings Offt-Label moderne Psychopharmaka, übernimmt nicht der Hersteller, sondern er selbst die Haftung. Erste Anzeigen hat es bereits gegeben, eine klare Judikatur fehlt in diesem Bereich allerdings noch. Daher empfiehlt Kienbacher, die Ersteinstellung von jugendlichen Patienten beziehungsweise Kindern unbedingt einem Facharzt zu überlassen. Dieser sollte dann – nach gründlicher Aufklärung des Patienten – einen schriftlichen Behandlungsvertrag abschließen, in dem die Zustimmung des Patienten und seiner Angehörigen festgehalten wird. „Nur auf den Beipackzettel zu verweisen, gilt hier nicht“, hält Kienbacher fest.

Schriftlicher Behandlungsvertrag

Selbst die Übernahme und Weiterverordnung durch den Allgemeinmediziner kann noch kritisch sein: Um rechtlich auf der ganz sicheren Seite zu sein, sollte man einen neuen Vertrag abschließen, in dem auch der neue behandelnde Arzt festgehalten wird. „Hausärzte müssen sich des Risikos einfach bewusst sein“, betont er. Selbst wenn Allgemeinmediziner in der Behandlung von Erwachsenen mit Psychopharmaka erfahren sind, sollte die Einstellung bei Kindern und Jugendlichen dem Experten überlassen werden. „Fachärzte können den Entwicklungsaspekt besser einordnen. Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, warnt der Experte. Da sie Psychopharmaka oft schneller metabolisieren als Erwachsene, brauchen Kinder im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht höhere Dosen. „Jugendliche sind häufig unterdosiert“, berichtet Kienbacher aus seiner Erfahrung. Erschwerend kommt hinzu, dass Kinder oft Medikamenten-naiv sind, Nebenwirkungen zeigen sich schneller und auch die Compliance ist geringer als bei erwachsenen Patienten. „Gerade bei jugendlichen Patienten erleben wir oft Ängste, süchtig zu werden oder eine Persönlichkeitsveränderung durchzumachen“, schildert der Experte. Lange und genaue Aufklärungsgespräche sind daher auf jeden Fall anzuraten.

Grundsätzlich setzt die Kinder- und Jugendpsychiatrie selten auf eine rein medikamentöse Behandlung. Ein multimodales Behandlungskonzept kann neben einer begleitenden Psychotherapie und der Arbeit mit den Eltern auch auf besondere Bedürfnisse eingehen und zum Beispiel eine Ernährungsberatung einplanen, falls es durch die Medikamente zu einer Gewichtszunahme kommt. In der Tagesklinik am Wiener AKH, in der Kienbacher tätig ist, finden zusätzlich regelmäßig Informationsveranstaltungen und Medikamententrainings statt. Eine Aufnahme empfiehlt der Experte allerdings nur in sehr schweren Fällen und bei Verdacht auf Suizidalität. „Depressionen kann man sonst sehr gut ambulant behandeln.“ Aufgrund der schlechten Versorgungssituation im Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich strömen allerdings viele Patienten direkt ins Krankenhaus oder auch zum Hausarzt. Beim Verdacht auf eine psychische Störung sollte der Allgemeinmediziner dennoch zum Facharzt überweisen oder – bei einer leichteren Ausprägung – die Möglichkeit einer Psychotherapie aufzeigen. „Ersteinstellungen durch Allgemeinmediziner halte ich für sehr kritisch, auch wenn es gesetzlich erlaubt ist“, sagt Kienbacher.

Verschleierte Depression

Bei Kindern treten Depressionen allerdings oft mehr verschleiert auf als bei Erwachsenen. Mangelnde Fantasie, Spielunlust und Anhedonie, Schlafstörungen, fehlende Affektregulation und apathisches Verhalten können – vor allem bei plötzlichem Auftreten – ein Hinweis auf eine Depression sein. Oft entlädt sich die Traurigkeit auch in Aggression. „Kinder im Schulalter beginnen dann schon, ihre Traurigkeit zu formulieren. Auch Suizidgedanken kommen vor“, erzählt der Experte. Die Antriebslosigkeit schlägt sich mitunter auch in schlechten Schulleistungen nieder. „Hier muss man auch überlegen, ob etwas anderes dahintersteht, etwa eine Geschwister-Rivalität um die Aufmerksamkeit der Eltern.“ In der Pubertät ähneln die Symptome jenen von Erwachsenen inklusive dem zirkadianen Verlauf mit dem morgendlichen Pessimum. Während eine gewisse Traurigkeit und Probleme mit dem Selbstwert in der Entwicklung normal sind, kann vor allem Trauer ohne Anlass ein Signal sein.

Als Mittel der ersten Wahl bei der Pharmakotherapie gelten SSRIs wie Citalopram und Fluoxetin. Ist auch eine Schlaf-anstoßende Wirkung beabsichtigt, machen Antidepressiva auf noradrinärer Basis wie etwa Mirtazapin Sinn. Auch hier kommen die Nebenwirkungen meist vor der Wirkung; der Experte warnt jedoch davor, zu rasch bei den Wirkstoffen zu wechseln. Bei der Behandlung brauche es vor allem Aufklärung, Gelassenheit und zu Beginn engmaschige Kontrollen, ist Kienbacher überzeugt. Denn Nebenwirkungen fallen bei Kindern oft heftiger aus und eine Studie aus den USA, die jetzt auch in deutschsprachigen Beipackzetteln vor gesteigerten Suizidideen bei Kindern und Jugendlichen warnt, bereitet Eltern oft Kopfzerbrechen. „Liest man die so genannte Black Box allerdings genauer, wurde nur eine Steigerung der Suizidgedanken von zwei auf vier Prozent der Jugendlichen festgestellt. Das ist für diese Phase der Entwicklung im Vergleich eher wenig. Tatsächliche Suizide gab es keine“, erklärt Kienbacher. Dennoch muss man jederzeit als Ansprechpartner für Patienten und Eltern zur Verfügung stehen. Denn sind die Patietnen unter 14 Jahre alt, entscheiden die Eltern alleine; bei über 14-Jährigen muss auch die Meinung des Jugendlichen angehört und berücksichtigt werden. „In der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben wir immer einen systemischen Anspruch“, meint Kienbacher.

16. Ärztetage Velden

25. bis 31. August 2013

Velden/Kärnten

Information zu Programm und Anmeldung unter www.arztakademie.at/velden

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2013