Standpunkt – Präs. Artur Wechselberger: Wer am Gipfel des Baumes Früchte sehen will, der nähre seine Wurzeln

15.07.2012 | Standpunkt

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Diese Gedanken des deutschen Dichters und Denkers Johann Gottfried Herder möchte ich meinem ersten Editorial in der neuen Funktionsperiode voranstellen. Schließlich sind es die gemeinsamen Wurzeln als Angehörige eines freien Berufes, die uns Ärztinnen und Ärzte einen und uns von anderen Berufen abheben.

Einen freien Beruf auszuüben bedeutet, geistig-ideelle Leistungen – eigenverantwortlich, fachlich unabhängig und aufgrund besonderer beruflicher Qualifikationen und ethischer Grundlagen – persönlich zu erbringen. Intellektuelle Leistungen, die als gemeinschaftswichtige Tätigkeiten im Interesse ihrer Auftraggeber – in unserem Fall zumeist der Patientinnen und Patienten – aber auch der Allgemeinheit angeboten und verrichtet werden.

Angehörige freier Berufe zeichnet auch aus, dass sie sich in ihrer idealistischen Grundeinstellung jeder egalitären, mechanistischen, materialistisch-ökonomischen gesellschaftlichen Konzeption entgegenstellen und gesellschaftliche sowie individuelle Bedürfnisse essentieller und existentieller Art abdecken. Neben direkt geleisteter ärztlicher Hilfe gilt es auch die Nöte, Wünsche und Vorstellungen des Einzelnen gegenüber anonymen Institutionen und Organisationen zu vertreten und schädigende Einflüsse von den Anvertrauten abzuhalten.

Damit gehört es zu den ärztlichen Aufgaben sui generis, die Individualität und Unabhängigkeit unserer Patienten vor den kollektiven Interessen des Staates zu schützen. Ökonomische Restriktionen aber auch ordnungspolitische Staatsinteressen, die deren Persönlichkeitsrechte gefährden, müssen von unserem Berufsstand aufgezeigt und aus individueller Verantwortung und ethischer Gebundenheit zurückgedrängt werden.

Paradoxer Weise fällt es gerade Ärzten in modernen Sozialstaaten mit der Dominanz eines „wohlmeinenden Staates“, der zu wissen glaubt, was seinen Bürgern gut tut, zunehmend schwerer, individuelle Leistungen unbeeinflussbar sicher zu stellen. Besonders dann, wenn Ärzte quasi als Amtswalter für das öffentliche System in vertragsärztlichen Funktionen oder als Angestellte öffentlicher Gesundheitseinrichtungen tätig werden, stehen sie oft vor dem Dilemma staatlicher Einflussnahme versus individueller Behandlungsnotwendigkeiten. Ein ähnlicher Konflikt tritt auf, wenn die Dominanz des Marktes versucht, das Berufsethos gegen die Gesetze des Marktes auszuspielen.

Schutz vor solchen Situationen kann nur eine freiberufliche, autonome Selbstverwaltung bieten, die als Widerpart des Staates und seiner Organisationen freiberufliches Handeln garantieren und fachliche sowie geistige Unabhängigkeit in ethischer Gebundenheit verteidigen muss.

Damit wird es gemeinsame Aufgabe aller gewählten Ärztevertreter sein, diese zentrale Herausforderung wahrzunehmen. Ebenso liegt es bei allen Berufsangehörigen, an den ethischen Wurzeln ihres freien Standes festzuhalten, nachdem – wie die Erfahrung lehrt – das öffentliche Ansehen eines Berufes in dem Maße verfällt, in dem sich ein großer Teil des Berufsstandes in seiner Praxis von den ethischen Grundsätzen des Berufes entfernt. Daher müssen selbst in lebensnahen Kompromissen die freiberuflichen Kernelemente wie Eigenverantwortung und Unabhängigkeit, Vertraulichkeit und Integrität, Berufsethos und Kompetenz als unverzichtbare gesellschaftliche Werte erkennbar bleiben.

Artur Wechselberger
Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2012