Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung: Beitrag zur Entstigmatisierung

25.04.2012 | Politik

Der Gesundheitszustand von Kindern, die im Rahmen eines Pilotprojekts durch Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie betreut wurden, konnte deutlich verbessert werden. In Niederösterreich gibt es seit 1. April 2012 insgesamt fünf solcher Kassenplanstellen; vom international gültigen Schlüssel ist man aber noch weit entfernt.
Von Ruth Mayrhofer

Zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind in Österreich von psychischen Störungen betroffen. Das Spektrum von psychischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter ist vielfältig: Es reicht von Ängsten über Aufmerksamkeitsdefizite, Ess- und Entwicklungsstörungen bis hin zu Psychosen und Depressionen. Wird nicht rechtzeitig interveniert, kann das für die Betroffenen mitunter dramatische Folgen haben und auch schwere, chronische Erkrankungen nach sich ziehen. Kein Wunder, dass in den letzten Jahren immer wieder der dringende Ruf nach der flächendeckenden Etablierung von kinder- und jugendpsychiatrischen Kassenpraxen in Österreich laut wurde.

In Niederösterreich wurde dieser Ruf nun – zumindest im Sinne eines guten Anfangs – gehört. Allein in diesem Bundesland geht man von etwa 30.000 beratungs- und behandlungswürdigen Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren aus. Seit 1. April 2012 gibt es in Niederösterreich – immerhin dem größten heimischen Bundesland – vier definitive kinder- und jugendpsychiatrische Facharztpraxen mit Kassenvertrag: in Purkersdorf und Mödling, wo zwei Praxen bereits 2007 installiert wurden, seit
1. April 2012 auch in Wiener Neustadt und St. Pölten. „Wir hoffen, in naher Zukunft auch die Kassenstelle in Mistelbach besetzen zu können“, meint Charlotte Hartl, Bundesfachgruppenobfrau für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der ÖÄK und selbst als niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Purkersdorf tätig. Bei der Besetzung der Kassenstelle in Mistelbach erweise sich der Fachärztemangel als ein Problem. Mit dieser Ausdehnung der kassenärztlichen Versorgung ergibt sich auch eine wichtige Ergänzung zum institutionellen beziehungsweise stationären Bereich genauso wie eine gewisse Hilfestellung für andere Bundesländer.

Evaluierung erfolgreich

Mit Ausschlag gebend dafür war der Evaluationsbericht zu diesem Pilotprojekt,
der von der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse gestaltet und Ende
2011 abgeschlossen wurde. Evaluiert wurde in den Facharzt-Praxen in Purkersdorf und Mödling. Dabei wurden nicht nur Basisdaten wie etwa Behandlungsphasen, Zeitaufwand, Zuweiser, Versorgungsregion, Diagnosen, etc. erhoben, sondern anhand von 1.600 Fragebögen für Eltern und Kinder beziehungsweise Jugendliche im Alter über zehn Jahren auch erstmals die Ergebnisqualität in einer Sonderfach-Kassenpraxis gemessen. „Der enorme Fragebogen-Rücklauf hat eindrucksvoll gezeigt, dass es den Patienten durch die fachärztliche Betreuung so gut gegangen ist, dass ganz einfach kein Weg an der Ausdehnung der kinder- und jugendpsychiatrischen Kassenpraxen vorbeiführen konnte“, zeigt sich Charlotte Hartl erfreut über diese Entwicklung. Immerhin hatten 37 Prozent der Erziehungsberechtigten und 32 Prozent der Patienten geantwortet.

So gaben im Rahmen der Umfrage zum Beispiel 90 Prozent der Eltern an, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Kinder durch die Behandlung deutlich verbessert habe. 83 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen bestätigten die Einschätzung ihrer Eltern. Oder: 77 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass bei ihren Kindern in Kindergarten oder Schule eine Leistungssteigerung festgestellt werden konnte. Die befragten Kinder und Jugendlichen kamen zu 73 Prozent zu diesem Ergebnis. Ebenso positiv äußerten sich befragte Eltern und Kinder/Jugendliche zu Veränderungen etwa im Verhalten gegenüber der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz und hinsichtlich der Beziehung zu Gleichaltrigen. Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sich ihre Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, „etwas“ oder „stark“ verbessert hätte.

So beeindruckend diese (Teil-)Ergebnisse der Evaluierung auch aussehen: „Wenn man sich aber vor Augen hält, dass immerhin zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen psychiatrische Hilfe benötigen, sind wir noch lange nicht am Ende des Weges angekommen“, weiß Hartl. Das Ziel muss deshalb sein, eine in Österreich flächendeckende regionale Basisversorgung in Sachen Kinder- und Jugendpsychiatrie zu erreichen, die auch bislang schwach versorgte Gebiete erreicht. Ein weiterer Schritt wird ab 2013 in Vorarlberg gesetzt werden, wo man pro 120.000 Einwohner eine kinder- und jugendpsychiatrische Kassenpraxis realisieren will. Hartl: „International gilt jedoch der Schlüssel‚ dass ein Facharzt auf 80.000 Einwohner kommen soll. Warum sollte dieser nicht auch für Österreich durchsetzbar sein?“

Steigende Nachfrage

Fazit: Der Zulauf derjenigen, die in kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen Hilfe suchen, steigt. Rund ein Viertel der Patienten kommen ohne Zuweisung, oft aufgrund einer gewissen „Mundpropaganda“, berichtet Hartl. Das spricht auch für die hohe Akzeptanz der Ordinationen bei Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, die ganz generell aus allen sozialen Schichten kommen. Ansonsten erfolgen Zuweisungen durch pädagogische, soziale oder medizinische Einrichtungen. Viele Betroffene brauchen neben der ärztlichen Behandlung noch zusätzliche Therapien und rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen auch eine medikamentöse Behandlung. Besonderes Augenmerk wird auf die Arbeit mit den Eltern gelegt. „Durch die kinder- und jugendpsychiatrischen Kassenpraxen ist der Zugang noch niederschwelliger geworden. Offenbar auch deswegen, weil durch die Integration in das allgemeine kassenärztliche Versorgungssystem die vermeintliche Stigmatisierung derjenigen, die bei einem Kinder- und Jugendpsychiater Hilfe suchen, abnimmt“, so Hartl. Ein Drittel der jungen Patientinnen und Patienten nimmt eine Behandlung länger als drei oder vier Jahre in Anspruch.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2012