Inter­view – Dr. Frank U. Mont­go­mery: Büro­kra­tie durch Kontrollwahn

25.02.2012 | Politik

Eine schwere Hypo­thek in Form von meh­re­ren Mil­li­ar­den Euro unnö­ti­gen Inves­ti­ti­ons­kos­ten in die elek­tro­ni­sche Gesund­heits­karte las­tet auf dem deut­schen Gesund­heits­we­sen, erklärt der Prä­si­dent der deut­schen Bun­des­ärz­te­kam­mer, Frank U. Mont­go­mery, im Gespräch mit Marion Huber und Agnes M. Mühl­gas­s­ner.


ÖÄZ: In Öster­reich wird der­zeit sehr hef­tig über die Ein­füh­rung einer elek­tro­ni­schen Gesund­heits­akte dis­ku­tiert. In Deutsch­land wur­den ent­spre­chende Akti­vi­tä­ten letzt­lich gestoppt. Wieso?

Mont­go­mery: Das Pro­jekt wurde nicht gestoppt. Es wurde aber nach dem Regie­rungs­wech­sel völ­lig neu aus­ge­rich­tet, um fal­sche Wei­chen­stel­lun­gen der Vor­gän­ger­re­gie­rung zu kor­ri­gie­ren. Wir haben in vie­len Kli­ni­ken her­vor­ra­gende elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­ten in Form von Insel­lö­sun­gen. Ich selbst arbeite in einem Kran­ken­haus, das kom­plett digi­ta­li­siert ist. Ich fasse kein Blatt Papier mehr an und habe eine per­fekte Pati­en­ten­akte. Die neue elek­tro­ni­sche Gesund­heits­karte in Deutsch­land soll ja zunächst nichts wei­ter sein, als ein Iden­ti­fi­zie­rungs­schlüs­sel, um in sol­che Sys­teme hin­ein­zu­kom­men. Die Ärzte haben das Pro­jekt elek­tro­ni­sche Gesund­heits­karte in der bis­he­ri­gen Form abge­lehnt, weil sie befürch­ten, dass die Daten der Pati­en­ten vor dem Zugriff der Kran­ken­kas­sen, den Kran­ken­ver­si­che­run­gen und dem Staat nicht wirk­lich gesi­chert auf­be­wahrt wer­den kön­nen. Hinzu kommt, dass die Kran­ken­kas­sen, so wie das Pro­jekt ursprüng­lich geplant war, Ein­bli­cke in die Gesund­heits­ak­ten hät­ten bekom­men kön­nen. Die ehe­ma­lige Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­rin Ulla Schmidt hat das dann zu einer zen­tra­len Macht­frage hoch­sti­li­siert. Und die­ses Macht­spiel­chen hat uns Mil­li­ar­den Euro an Inves­ti­tio­nen und in der Ver­wal­tung gekos­tet. Das ist eine ganz schwere Hypo­thek, die uns Ulla Schmidt da hin­ter­las­sen hat.

Ein wei­te­res hei­ßes Eisen sind die Kos­ten im Gesund­heits­we­sen. In Öster­reich sol­len einige Mil­li­ar­den Euro ein­ge­spart wer­den. Wie beur­tei­len Sie die Situa­tion in Deutsch­land?
Ich war bei der denk­wür­di­gen Ver­an­stal­tung dabei, als Horst See­ho­fer 1992 in Deutsch­land ein Ein­spar­vo­lu­men von 25 Mil­li­ar­den D‑Mark erfand. Das jetzt in Öster­reich ver­mu­tete Ein­spar­vo­lu­men von eini­gen Mil­li­ar­den Euro kann ich nicht kom­men­tie­ren, aber ich warne vor die­sen gegrif­fe­nen poli­ti­schen Zah­len. Sehen Sie, in Deutsch­land heißt es seit 20 Jah­ren, dass wir zehn Pro­zent Ein­spar­vo­lu­men haben, nur kann kei­ner die­sen Schatz heben. Natür­lich ist es unstrit­tig, dass man in einem Sys­tem, das so viel Geld umsetzt – in Deutsch­land sind es fast 300 Mil­li­ar­den Euro – Wirt­schaft­lich­keits­re­ser­ven fin­den kann. Wer behaup­tet, dass es die nicht gäbe, hat keine Ahnung von Öko­no­mie. Aber wir haben auch erfah­ren müs­sen, dass es von der Ein­spa­rung zur Ratio­nie­rung nur ein kur­zer Weg ist. Stop­fen wir hier ein Loch, rei­ßen wir an ande­rer Stelle eins auf. Des­halb ist es völ­lig natür­lich, dass wir stän­dig dar­über gemein­sam strei­ten, wo Wirt­schaft­lich­keits­re­ser­ven sind und wie hoch sie sind. Und ich gehe mal davon aus, dass wir diese Dis­kus­sion bei der Kom­ple­xi­tät des The­mas noch Jahr­zehnte füh­ren wer­den.

Mit dem kürz­lich beschlos­se­nen Ver­sor­gungs­struk­tur­ge­setz hofft man in Deutsch­land, dem Ärz­te­man­gel auf dem Land ent­ge­gen­wir­ken zu kön­nen. Glau­ben Sie, dass man das mit einem Gesetz regeln kann?

Wir begrü­ßen die­ses Gesetz sehr. Viele unse­rer For­de­run­gen hat die Poli­tik auf­ge­grif­fen. Wir gehen aber natür­lich nicht davon aus, dass mit die­sem Gesetz alle Pro­bleme beho­ben wer­den. Den­noch ist das Gesetz für uns ein Novum. Zum ers­ten Mal hat eine Regie­rung aner­kannt, dass es einen Ärz­te­man­gel gibt. Das war unter der Vor­gän­ger-Regie­rung mit Ulla Schmidt undenk­bar. Und die jet­zige Regie­rung hat nicht nur rich­tig dia­gnos­ti­ziert, sie hat auch erste kon­krete Maß­nah­men zur The­ra­pie ein­ge­lei­tet, frei nach Mao Tse-tung: Auch der lange Marsch hat mit einem ers­ten Schritt begon­nen.

Wie will man in Deutsch­land das Pro­blem der über­rann­ten Spi­tals­am­bu­lan­zen ange­hen?
Wir sind sehr dafür, dass der Pati­ent im Kern das Recht der freien Arzt­wahl hat. Aber: Nicht jede Kli­nik­be­hand­lung muss im ambu­lan­ten Bereich durch Kran­ken­haus­ärzte wei­ter geführt wer­den. Wir haben ja in Deutsch­land zwar den Grund­satz ‚ambu­lant vor sta­tio­när‘, doch gestal­tet sich der Über­gang nicht immer ganz so ein­fach. Da gibt es zum Teil erheb­li­che Inter­es­sens­kon­flikte zwi­schen Spi­tal und Nie­der­las­sung und da sind wir natür­lich gefor­dert, aus­glei­chend tätig zu sein.

Die Summe aller Ver­wal­tungs­kos­ten im Gesund­heits­we­sen sind einer Stu­die von A.T. Kear­ney zufolge höher als sonst, näm­lich 23 Pro­zent. In der Indus­trie etwa beträgt der Anteil 6,1 Pro­zent. Die Stu­di­en­au­toren sehen enor­mes Ein­spa­rungs­po­ten­tial. Wie beur­tei­len Sie das?

Ich will die Zah­len nicht in der Höhe kom­men­tie­ren, zumal die Sys­te­ma­tik der Unter­su­chung durch­aus zu dis­ku­tie­ren ist – aber die Ten­denz ist natür­lich völ­lig rich­tig. Wir bekla­gen seit Jah­ren, dass es zu viel Ver­wal­tung gibt. Im Gesund­heits­sys­tem hat sich durch den gegen­sei­ti­gen Kon­troll­wahn eine enorme Büro­kra­tie aus­ge­brei­tet. So ent­steht eben nicht nur Ver­wal­tungs­auf­wand bei den Kran­ken­kas­sen, son­dern auch bei den Ärz­ten, die sich fort­wäh­rend gegen­über den Kran­ken­kas­sen recht­fer­ti­gen müs­sen – und bei den Kran­ken­häu­sern, die heute bei jeder sta­tio­nä­ren Behand­lung nach­wei­sen müs­sen, dass wirk­lich sta­tio­när behan­delt gehörte. Das kos­tet nicht nur wahn­sin­nig viel Geld, son­dern auch Zeit bei der Pati­en­ten­be­hand­lung. Das alles ist Folge der seit Jah­ren in Deutsch­land wirk­lich schlech­ten Gesetz­ge­bung im Gesund­heits­we­sen. Und schlechte Gesetze kann man eben nur umset­zen mit viel Ver­wal­tung, viel Admi­nis­tra­tion und viel juris­ti­schem Sach­ver­stand. Das ist das Kern­pro­blem in Deutsch­land.

Wie ist denn das Ver­hält­nis der Ärz­te­kam­mer zum deut­schen Gesund­heits­mi­nis­ter ins­ge­samt?
Wir sind neun Jahre lang durch das tiefe gesund­heits­po­li­ti­sche Tal von Ulla Schmidt gegan­gen. Die Kom­mu­ni­ka­tion war außer­or­dent­lich schwie­rig und fast immer von ideo­lo­gi­schen Dif­fe­ren­zen über­la­gert. Mit der gegen­wär­ti­gen Regie­rungs­kon­stel­la­tion haben wir eine völ­lig neue Dia­log­kul­tur ent­wi­ckelt. Wir haben viele Defi­zite im Gesund­heits­we­sen gemein­sam iden­ti­fi­ziert, haben Pro­blem­be­wusst­sein geschaf­fen. Wir waren uns einig, dass man Ver­sor­gungs­man­gel nicht weg­dis­ku­tie­ren kann, son­dern dass man kon­krete Maß­nah­men ergrei­fen muss. Kein wei­te­res Kos­ten­dämp­fungs­ge­setz, son­dern ein Ver­sor­gungs­struk­tur­ge­setz, das das Poten­tial hat, dau­er­hafte Lösun­gen anzu­ge­hen. Aber kein Licht, wo nicht auch Schat­ten. Trotz aller Bemü­hun­gen aus dem Minis­te­rium haben wir in Deutsch­land das Kurio­sum einer Koali­ti­ons-inter­nen Oppo­si­tion. Und daran schei­tern oft die gro­ßen Ansätze. Und dann ist auch noch die not­wen­dige Bun­des­rats­mehr­heit nach dem Regie­rungs­wech­sel schnell dahin geschmol­zen. Viele, zu viele gute Ideen wer­den in die­ser poli­ti­schen Kon­stel­la­tion zer­re­det. Aber wir blei­ben dran, man­che The­ra­pien dau­ern eben etwas län­ger.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 4 /​25.02.2012