Enquete Freie Berufe: Unverzichtbare Leistungen

15.12.2012 | Politik


Weil sie Grundansprüche und Grundrechte des Bürgers abdecken, sind die von Angehörigen der freien Berufe erbrachten Leistungen unverzichtbar. Bei der
geplanten Gesundheitsreform delegiert die Politik die Verantwortung für die
Rationierung an die Ärztinnen und Ärzte – erklärten Experten bei der Enquete „Freie Berufe in Gefahr“ in Wien.

Von Marion Huber

Eine Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Ärzte als Angehörige eines freien Berufes und der Meinung der Öffentlichkeit über freie Berufe ortet der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Artur Wechselberger, wie er zu Beginn der Enquete „Gesundheitsreform 2012 – Freie Berufe in Gefahr?“ im Rahmen der 126. Vollversammlung der ÖÄK erklärt. Das Wesen des freien Berufes sei es, Leistungen anzubieten, die jeder Bürger für das Funktionieren eines Staates benötigt. Denn freie Berufe helfen dem individuellen Bürger und dem Staat; die Ärzte etwa, indem sie für die Gesundheit der Österreicher sorgen und dafür, dass ein funktionierendes Gesundheitswesen möglich ist. Es gehöre zu den freien Berufen, diese Dienste auf dem höchstmöglichen Standard der Wissenschaft und des Könnens auszuüben. „Und es gehört auch zu einem freien Beruf, dass er sich selbst organisieren kann. Nimmt man einem freien Beruf die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren, nimmt man ihm einen Teil seines Wesens.“

Schon immer hätten die freien Berufe den Gegenpol zum Staat dargestellt – weswegen sie von eben diesem Staat als „unbequem“ apostrophiert würden. Wechselberger weiter: „Ein Staat misst sich aber nicht zuletzt darin, wie er mit seinen freien Berufen umgeht.“ Die Ursache für viele Diskussionen diesbezüglich liege darin, dass „wir den Finger auf Wunden legen, wo wir die Freiheit der österreichischen Ärzte gefährdet sehen“. Genau hier sehe er „eine schiefe Ebene – und wir haben die Aufgabe, laut zu werden und die Bevölkerung auf diese schiefe Ebene hinzuweisen.“

Absolute Unabhängigkeit notwendig

Die Bedeutung der freien Berufe sieht auch Gerhard Benn-Ibler, Ehrenpräsident des Österreichischen Rechtsanwalts-Kammertages, darin begründet, dass die Leistungen „unverzichtbar“ sind, weil sie Grundansprüche und Grundrechte des Bürgers abdecken. Der Qualitätssicherung komme dabei eine „überragende Bedeutung“ zu. Daher sei das Vertrauen des Bürgers in Freiberufler wichtig und: „Wir brauchen die volle Unabhängigkeit der Berufsträger“, betont Benn-Ibler.

Ein weiteres wichtiges Moment stelle die Verschwiegenheit dar. Der Beruf als solcher müsse reglementiert sein, damit der Leistungsempfänger geschützt ist, während eine Beschränkung der Kammern „nur aus sachlichen Gründen möglich sein wird“. Europa anerkenne „grundsätzlich das Konzept der Kammern“. Was Benn-Ibler besonders betont: „Bei der Ausübung einer solchen Tätigkeit ist bei einem freien Beruf immer dieses persönliche Element der Leistungserbringung ein ganz wesentliches Element.“

Eine besondere Verpflichtung der freien Berufe sieht er speziell im Hinblick auf das Gemeinwohl, weil die erbrachten Leistungen die Grundrechte betreffen. Nicht umsonst sind die freien Berufe seiner Ansicht nach heute „Pfeiler des Pluralismus, für die Unabhängigkeit, sie sind Ausdruck einer demokratischen Grundordnung, die auf den Gesetzen basiert und ein Garant für den Schutz der Grundrechte“. Überzeugt ist er davon, dass sich auch die freien Berufe „zu ändern haben werden“ – aber darauf achten müssten, dass die Kernbereiche unangetastet bleiben. Eine Gratwanderung, wie Benn-Ibler gesteht und er glaubt auch, dass es „heftige Auseinandersetzungen“ geben wird, was er im Übrigen als „wichtig“ bezeichnet. Denn: „Wir haben diesen Kampf zu führen – nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse des Bürgers.“

Mit dem „Systembruch Gesundheitsreform“ und den daraus resultierenden sozialen und gesundheitspolitischen Auswirkungen befasste sich im Anschluss Univ. Prof. Klaus Firlei, Professor für Arbeits-, Wirtschafts- und Europarecht an der Universität Salzburg. „Dieses enorme Projekt mit Einsparungen in Milliardenhöhe, das die wesentlichen Eckpfeiler des österreichischen Gesundheitssystems in Frage stellt, wurde völlig von der Expertise von Gesundheitswissenschaftern, Soziologen etc. herausgenommen.“ Und Firlei kritisiert auch, dass es bei diesem Projekt „keine Kontrolle“ auf die fachliche Qualität der Entscheidung gegeben hätte. Praktisch alle Elemente des österreichischen Gesundheitssystems würden dadurch auf „intransparente und raffinierte Weise“ untergraben. In die Hand spiele der Politik dabei, dass die Materie derart kompliziert ist, dass die eigentlichen Ziele der Reform sehr gut verschleiert und „hinter Worthülsen versteckt“ werden könnten. Der Strukturumbruch ist für Firlei offenkundig: „Ein Teil des Gesundheitswesens wird privatisiert und die Sozialversicherungsträger können sich aus dem Sachleistungssystem zurückziehen.“

Deckelung ist Rationierung

Firlei sieht einen „Angriff auf die Freiberuflichkeit“, die werde aber auch im Sozialrecht respektiert, wie er erklärt: „So sagt etwa der OGH immer: die ärztliche Entscheidung ist eine Ermessensentscheidung.“ Und: Die Sozialversicherungsträger hätten laut ASVG für eine lückenlose Gesundheitsversorgung durch Sachleistungen vorzusorgen. „Sie haben nicht primär den Auftrag, zu sparen“, wie er klarstellt.

Ein Kern der Reformen in den letzten Jahre war immer die Einnahmenorientierte Ausgaben-Politik: Es wird nur so viel ausgegeben, wie vorhanden ist. Firlei konstatiert hier einen „krassen Gegensatz“ zum österreichischen Krankenversicherungsgesetz: Zu finanzieren ist jeweils der Bedarf. Selbst wenn die Leistungen und damit die Ausgaben für Behandlungen ansteigen sollten, sind sie zu finanzieren. Denn: „Im österreichischen Recht gibt es derzeit ein Rationierungsverbot.“ Außerdem sind alle Leistungen in der besten Qualität, auf Basis des medizinischen Fortschritts, nach Möglichkeit als Sachleistungen und mit Vorrang für den niedergelassenen Bereich zu erbringen. „Wenn sie deckeln, ist das ein Systembruch mit dem Bedarfsdeckungs-Prinzip.“

In der Tatsache, dass die Ausgaben aufgrund der Demographie, des medizinischen Fortschritts, neuer Medikamentengruppen oder weil sich die Menschen unvernünftig ernähren etc. eindeutig stärker steigen werden als die Einnahmen der Sozialversicherung, sieht Firlei „praktisch ein Naturgesetz“. Was er daraus ableitet? „Wenn man das nicht finanzieren will, bedeutet das eindeutig Rationierung.“ Denn es sei eine „politische Entscheidung“ zu sagen: „Wir finanzieren Medizin für alle.“ Komme man davon ab, dann „soll die Politik das sagen. Aber das trauen sie sich nicht“, weil es einer „Kampfansage“ an die Bevölkerung gleich käme. Daher würden andere Methoden eingesetzt, die das Vertrauen in den Arzt erschüttern könnten. „Hier trickst die Politik und trifft Alibi-Maßnahmen.“ Zur Prävention und dem Fehlen eines Hausarztmodells meint der Experte: „In der Gesundheitsreform findet sich keine einzige Maßnahme, die diese Probleme löst.“ Was mangelnde Prävention konkret bedeutet, veranschaulicht er an folgendem Beispiel: Durch mangelnde Prävention in der Arbeitswelt verlieren wir jährlich zwischen fünf bis sieben Milliarden Euro. Alle seien „alarmiert“ von den Kosten, die durch psychische Belastungen am Arbeitsplatz entstehen. Wie wurde darauf reagiert? Mit einer „Alibi-Maßnahme“, wie Firlei es bezeichnet, denn in der Novelle zum ArbeitnehmerInnenschutzgesetz findet sich lediglich die Formulierung „psychische Belastungen sind zu evaluieren“.

Die einzige Maßnahme, die der Experte in der geplanten Gesundheitsreform erkennen kann, ist eine Deckelung mit Rationierungseffekten: „Es kann mir niemand erzählen, dass bis 2020 mehrere Milliarden Euro durch Effizienzgewinne eingespart werden können. Das ist unmöglich.“ Dies könnte nur dann gelingen, wenn bereits alle Maßnahmen laufen würden und eine Feinabstimmung erfolgt wäre. „Aber so ist es nicht! Es gibt überhaupt kein Finanzierungskonzept. In Wahrheit wird unter anderem durch das ‚Monster‘ ELGA alles nicht billiger, sondern noch teurer.“ Eine „echte“ Gesundheitsreform würde zuerst etwa in Prävention, hausärztliche und psychosoziale Versorgung investieren, um die Gesundheitsausgaben zu senken. „Eine echte Gesundheitsreform kostet mehr in der ersten Phase. Erst dann wird es zu einer Abflachung bei den Kosten kommen.“ Denn die Einsparungen fließen ja nicht ins Gesundheitssystem zurück, so Firlei. „Die fließen in die Bankensanierung, in Tunnel, in die Pendlerpauschale – und auch nach Salzburg. Deshalb ist es auch nicht mehr als eine finanzpolitische Maßnahme.“

Den Beginn der Sparmaßnahmen sieht Firlei schon mit der Einführung des EKO – das war schon eine „Bürokratisierungswelle“. Ihre Fortsetzung hätten die Einsparungsmaßnahmen dann in der Einführung von §10 der Heilmittel-Bewilligungs- und Kontroll-Verordnung gefunden – eine wie Firlei sagt „besonders wilde Geschichte, die die Ideenwelt der Reformer gut repräsentiert“. Im Zuge dessen wurden die Heilmittelbudgets mit den Einnahmen der Sozialversicherung gedeckelt: Wenn Ärzte mehr als vier Prozent verschreiben, haften sie; diejenigen, die besonders sparsam sind, bekommen einen Bonus. „So werden Leistungen limitiert.“ Das sei aber nicht die Aufgabe des Arztes, denn „er muss immer auf der Seite des Patienten stehen können“. Firlei weiter: „Der Arzt darf nicht zu einer Ökonomiemaschine und zum Komplizen der Sozialversicherungsträger bei Sparzielen gemacht werden.“ Denn der Patient „ist angewiesen auf seinen Arzt“. Anstatt jedoch selbst Verantwortung für die Rationierungen zu übernehmen, delegiert die Politik sie nach unten und bringt die Ärzte damit in einen ethischen und rechtlichen Konflikt, der „unlösbar“ ist.

Auch in der Evidence-based Medicine sieht Firlei keine Qualitäts-steigernde Maßnahme: „Das ist eine Nivellierung auf unterem Niveau.“ Rationierung funktioniere auf der Basis von Leitlinien: „Sie brauchen ein digitalisiertes Monster, das Verschreibungen und Behandlungen überprüft – ob nicht zu viel gemacht wird.“ ELGA etwa erfordere, dass auch die Lebensverhältnisse und Gewohnheiten abgebildet werden. „Das ist ein unglaublich in die Intimsphäre eingreifendes System, das Daten speichert.“ Man benötige dafür eine Rechtfertigung: „Sparen ist keine“, so Firlei. Allenfalls in gesundheitlicher Sicht – aber die sei nicht erkennbar, denn es gäbe gar nicht die Zeit dazu, diese Daten sinnvoll auszuwerten. Auch die Verhältnismäßigkeit sieht Firlei bei ELGA nicht gegeben: „Hinter dem System steht nicht eine bessere Patientenversorgung, sondern eine bessere Kontrolle.“ Auch darin sieht er – angesichts der europäischen Datenschutz-Richtlinie – „keine Rechtfertigung“.

Bislang habe es im österreichischen Gesundheitssystem immer ein Gleichgewicht zwischen ÖÄK und den Sozialversicherungsträgern gegeben. Firlei: „Die Sozialversicherungsträger haben nach dem ASVG eine Vorsorgepflicht. Sie haben primär nicht den Auftrag, zu sparen, sondern eine Gesundheitsversorgung auf die Beine zu stellen.“ Nun sieht er jedoch mehrere „Einbrüche im Gesundheitswesen“ – wie Firlei es formuliert. So etwa versuche die Sozialversicherung seit Langem, „die Stellung der Ärzte zu untergraben und die Ärzte zu spalten“.

Sein Fazit: „Die Politik übernimmt keine Verantwortung für die Rationierung. Sie überträgt sie an die Gesundheitsberufe und an die Krankenanstaltenträger.“ Die Gesundheitsreform insgesamt bezeichnet er als „gesundheitspolitisches Desaster“. Denn: „Man kann doch nicht die Financiers, die nur ein Interesse haben, an die Gesundheitsplanung heranlassen.“ Auch aus wissenschaftlicher Sicht sei das Ganze eine „reine Finanzreform“. Nichts von dem, was eigentlich passieren müsste, geschieht. Weswegen Firlei der Gesundheitsreform aus wissenschaftlicher Sicht ein glattes „Nicht genügend“ verpasst.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2012