2. Tag der Allgemeinmedizin: Die Erfahrung der anderen

25.03.2012 | Politik

Nach der Abschaffung des Krankenkassensystems in Italien hat man nun die größte Mühe, den niedergelassenen Bereich wieder aufzuwerten. Details dazu gabe es am 2. Tag der Allgemeinmedizin, der von der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) in Zusammenarbeit mit der ÖÄK kürzlich in Wien
veranstaltet wurde.

Im derzeit ungesteuerten Zugang zum Gesundheitssystem sieht der Obmann der Kurie für niedergelassene Ärzte in Kärnten, Gert Wiegele, einen „kostentreibenden Faktor“, wie er in seinem Eingangsstatement erklärte. Er forderte die Politik dazu auf, die entsprechenden Voraussetzungen für die Umsetzung des von der ÖÄK entwickelten Hausarzt-Modells zu schaffen. Des Weiteren müsste die Ausbildung vertieft und der Facharzt für Allgemeinmedizin eingeführt werden. Wiegele: „Natürlich müssen die Leistungen dieses Vertrauensarztes auch gerecht honoriert werden.“ Gleichzeitig sollte die Politik auch die Chance ergreifen, von den Erfahrungen der anderen zu lernen.

In Italien beispielsweise hat man 1980 das System der Krankenkassen abgeschafft und das Nationale Gesundheitssystem (Sistema Sanitario Nazionale; SSN), ein Primärarztsystem, eingeführt. Als Vorbild diente dabei das britische National Health Service (NHS). Die Finanzierung des italienischen Gesundheitssystems erfolgt vollständig aus dem allgemeinen Steuertopf.

Das verstaatlichte Gesundheitswesen in Italien wird vom Gesundheitsministerium, Gesundheitsrat, Gesundheitsinstitut und der Arzneimittelbehörde geleitet. Die Versorgung selbst jedoch erfolgt durch die regionalen Gesundheitsdienste; diese organisieren sich in den 20 italienischen Regionen und autonomen Provinzen eigenständig. Zusammen mit Gebietsgesundheitsbetrieben und Krankenhausbetrieben erbringen sie alle Gesundheitsleistungen. 1992 erfolgte die Umwandlung der öffentlichen „Sanitätseinheiten“ in „Sanitätsbetriebe“. In Südtirol gab es bis 2010 vier Gesundheitsbetriebe; jetzt gibt es nur noch den „Sanitätsbetrieb der Autonomen Provinz Bozen – Südtirol“. Diese Sanitätsbetriebe leiten sämtliche territoriale Dienste und alle Krankenhäuser. Die territorialen Dienste wiederum sind in Gesundheitssprengeln organisiert und umfassen die medizinische Grundversorgung (primary care), die Arzneimittelversorgung, die Dienste für öffentliche Hygiene und psychische Gesundheit, die Präventiv- und Arbeitsmedizin sowie den Veterinärdienst.

Der Arzt ist freiberuflich tätig; er geht mit dem Sanitätsbetrieb einen Exklusivvertrag („Konvention“) ein. Jeder Bürger muss in seinem Sprengel einen „Hausarzt“ auswählen; dieser überweist dann – falls notwendig – zum Facharzt oder ins Krankenhaus. Ausnahmen davon bestehen lediglich bei Notfällen, psychisch Kranken, Schwangeren und bei Vorsorgeprogrammen. Fachärzte gibt es nur in Krankenhausambulatorien. Bei der Betreuung durch den Allgemeinmediziner ist eine Begrenzung von maximal 1.500 Patienten vorgesehen (Südtirol: 2.000).

Der Allgemeinmediziner erhält pro Patient eine festgelegten Betrag („Kopfquote“), die in der Betreuung Folgendes umfasst: alle Visiten in der Praxis, alle Arztvisiten bei Hausbesuchen, Verschreibungen von Medikamenten, Verschreibung von fachärztlichen Visiten, Untersuchungen und Krankenhausaufenthalten, das Führen einer Krankendatei sowie gesetzlich vorgeschriebene Bescheinigungen.

Ein zusätzliches Entgelt gibt es für die „programmierte Betreuung“ von chronisch Kranken, die „integrierte Betreuung“ von komplexen Fällen, die Betreuung von Insassen in Alters- oder Pflegeheimen, für Nachtbereitschaft (für die eigenen Patienten), Wochenendbereitschaft (für den gesamten Sprengel), „gelegentliche Visiten“ für den öffentlichen Dienst.

Insgesamt zeigt sich jedoch, dass sich der Schwerpunkt der Gesundheitsversorgung in Richtung Krankenhaus verlagert hat – entgegen den ursprünglichen Plänen des Nationalen Gesundheitsdienstes. Die Ursachen dafür liegen in der gezielten politisch-ökonomischen Förderung des Krankenhaussektors sowie der Tatsache, dass die Ausbildung und die Investitionen in die niedergelassene Allgemeinmedizin vernachlässigt wurden. Der Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin Südtirol (SüGAM), Simon Kostner, resümierend: „Die Gesundheitspolitik hat die Allgemeinmedizin viel zu lang vernachlässigt. Diese Versäumnisse müssen wir nun etwa in Südtirol unter größten Anstrengungen aufholen.“ Wegen der Kostenexplosion im Gesundheitswesen findet nun in Südtirol aktuell eine Reform der Gesundheitsversorgung statt. Dabei geht es vor allem um Maßnahmen, die die Allgemeinmedizin aufwerten und stärken sollen wie zum Beispiel eine bessere Infrastruktur (Ordinationen, EDV-System etc.), eine Optimierung der Organisation (Gemeinschaftsordinationen), Aus- und Fortbildung für Allgemeinmediziner, eine zahlenmäßige Aufstockung der Hausärzte sowie die Förderung der allgemeinmedizinischen Forschung.

In der Schweiz wiederum wird die Bevölkerung im Juni 2012 darüber entscheiden, ob ein Managed Care-System (MC) eingeführt wird. Dabei soll sich der Patient vertraglich verpflichten, immer zuerst seinen Hausarzt aufzusuchen. Ausnahmen sind Gynäkologe, Augenarzt, Kinderarzt und Notfälle. Die Ärzte im Managed Care-System ihrerseits haben einen Vertrag mit einem Versicherer. Aufgrund der komplexen vertraglichen und finanztechnischen Herausforderungen ist dies meist nur im Rahmen von MC-Betriebsgesellschaften zu bewältigen. Und damit untersteht die ärztliche Tätigkeit automatisch betriebswirtschaftlichen Vorgaben. Bruno Kissling von der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin dazu: „Aus dem ursprünglich einfachen und guten Gedanken, den Hausarzt ins Zentrum zu rücken, ist eine Eskalation von Management und Controlling entstanden. Jetzt haben wir einen tiefen Riss quer durch die Patienten- und Ärzteorganisationen.“

Die Politik plant nun die gesetzliche Verankerung des Managed Care-Systems. Während der Berufsverband „Hausärzte Schweiz“ und eine große Zahl der Hausärzte in der deutschsprachigen Schweiz für diese Vorlage sind, sind jene der französisch- und italienischsprachigen Schweiz fast geschlossen dagegen. Bruno Kissling ist jedoch überzeugt davon, dass das Schweizer Gesundheitssystem auch ohne Managed Care von der Hausarztmedizin profitieren könnte. „Es braucht den erklärten politischen Willen der Regierung, den Nachwuchs durch eine verbesserte allgemeinmedizinische Ausbildung und Forschung zu fördern, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen und eine angemessene Honorierung zu gewährleisten.“
AM

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2012