Psychische Belastung am Arbeitsplatz: Macht Arbeit krank?

25.05.2012 | Arbeitsmedizin, Medizin

Hektik, Zeitdruck, Überlastung und ständige Unterbrechungen bei der Arbeit sowie 24-Stunden-Erreichbarkeit sind aufgrund von modernen Kommunikationsmitteln oft selbstverständlich; Arbeitsresultate werden zunehmend fiktiv. Psychische Erkrankungen sind derzeit die dritthäufigste Einzeldiagnose für Arbeitsunfähigkeit.
Von Verena Ulrich

Arbeitsbedingter Stress stellt eine immense Belastung in Bezug auf menschliches Leiden und die wirtschaftliche Leistung dar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt beruflichen Stress zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts; Gesundheitswesen und Wirtschaft sind gleichermaßen gefordert.

Laut einer Erhebung sind bereits 165 Millionen Menschen in der EU von einer klinisch relevanten psychischen Störung betroffen, was 38 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Viele dieser Störungen sind auf berufsbedingten Stress zurückzuführen; man kann davon ausgehen, dass die Zahl der Betroffenen weiter steigen wird. Bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage im Namen der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EUOSHA) sagten acht von zehn Befragten, dass die Zahl der Personen, die unter arbeitsbedingtem Stress leiden, in den nächsten fünf Jahren weiter zunehmen wird. Befragt wurden insgesamt 35.000 Personen aus 36 europäischen Ländern zu aktuellen Arbeitsplatzthemen.

Auch in Österreich ist ein Anstieg von Stress-bedingten psychischen Erkrankungen nicht zu leugnen, wie Univ. Doz. Manfred Schmidbauer, Vorstand der neurologischen Abteilung des Neurologischen Zentrums Rosenhügel, bestätigt. „In den letzten Jahren ist für mich eine Zunahme der Stressreflektion am Arbeitsplatz klar bemerkbar“, erklärt der Experte. Was stresst uns so? Die Zeiten, in denen ein Arbeiter am Abend mit Stolz und Zufriedenheit das Ergebnis seines Tagwerks betrachtet, scheinen vorbei zu sein. Der moderne Arbeitnehmer fühlt sich oft wie ein Rädchen in einem System, in dem er das große Ganze nicht mehr erkennen kann. „In vielen Arbeitsbereichen und Arbeitsleistungsformen sind keine Ergebniszeitpunkte mehr spürbar. Mit anderen Worten: Die positive Beendigung einer Bemühung ist nicht mehr vorhanden. Arbeitsresultate werden zunehmend fiktiv“, sagt Schmidbauer.

Dazu kommt, dass im Informationszeitalter die Grenzen zwischen beruflich und privat immer mehr verschwimmen. 24-Stunden-Erreichbarkeit sind aufgrund moderner Kommunikations-mittel Normalität geworden. Regenerative Phasen, die für Körper und Psyche nötig sind, um sich an steigende Anforderungen anzupassen und Energiespeicher wieder aufzufüllen, werden nicht mehr eingehalten. Die Finanzkrise, Mitarbeiterabbau und damit verbundene Existenzängste tragen ihr Übriges dazu bei. Überforderung macht sich breit und das Risiko für eine psychische Krankheit steigt.

Stress lähmt

Droht Gefahr, reagiert der Organismus mit Stress: Blutdruck und Herzfrequenz steigen, die Sinne sind geschärft. Akute Stresssituationen führen zu einer Auslenkung der Adrenalinkurve und in unmittelbarer Folge auch bei der Cortisolkurve.

Kurzfristig ist der Organismus so in der Lage, auf Gefahren oder besondere Herausforderungen zu antworten, Energiequellen anzuzapfen und Entzündungen befristet zu unterdrücken. Eine evolutionäre Schutzfunktion, die zwar in Gefahrensituationen schützt, aber auf Dauer krank macht. „Dauerhafter übermäßiger Stress kann zu nachweisbaren neurologischen Schäden führen“, bestätigt der Neurologe Univ. Prof. Wolfgang Lalouschek aus Wien. „Durch den dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel kommt es zu Schädigungen der Nervenzellen in mehreren Hirnarealen, unter anderem dem Areal für die Gedächtnisfunktion sowie zur Störung neuer Vernetzungen zwischen Nervenzellen“, erklärt der Neurologe. Ist die Stress-Situation nicht terminierbar, sinkt außerdem auch der Serotoninspiegel, der für die emotionale Stabilität im Gehirn verantwortlich ist. Depressive Verstimmungen, Angstzustände und Schlaflosigkeit werden begünstigt. „Wenn der Zustand eskaliert, mündet er in einem Symptomenkomplex unter der Schlagwortbezeichnung ‘Burn out-Syndrom‘“, führt Schmidbauer weiter aus. Nicht nur die gesundheitlichen, sondern auch die volkswirtschaftlichen Folgen sind enorm.

Psychische Erkrankungen sind derzeit die dritthäufigste Einzeldiagnose bei Arbeitsunfähigkeit und die Hauptursache für Krankheits-bedingte frühzeitige Pensionierung. „Die Statistiken belegen eindeutig eine massive Zunahme von Fehlzeiten und vorzeitiger Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten 15 Jahren“, berichtet Lalouschek. Laut einer in Deutschland durchgeführten Studie – die jedoch auch auf Österreich umgelegt werden kann – entfallen 16 Prozent aller verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre auf psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen.

Warnzeichen erkennen

Warnzeichen von psychischen Erkrankungen sollten Ernst genommen und von Betroffenen selbst, den Arbeitsmedizinern und auch den Hausärzten nicht fehlgedeutet oder ignoriert werden. Erste Symptome von psychischen Krankheiten zeigen sich oft auf der körperlichen Ebene. „Körperliche Warnzeichen sind Erschöpfungsgefühl und eine Zunahme von Beschwerden im Herz-/Kreislaufsystem sowie im Gastrointestinaltrakt, häufige Infekte, Zunahme von Allergien, Rücken- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen“, weiß Lalouschek. Auf der psychischen Ebene wiederum zeigten sich Antriebs- und Lustlosigkeit, Nervosität und Gereiztheit. Auch Verhaltensänderung könne ein Warnsignal sein. Lalouschek weiter: „Hierbei sind vor allem Hyperaktivität und die Zunahme von Ersatzbefriedigung wie Alkohol, Nikotin, Koffein oder das Einkaufen zu nennen.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2012