Intoxikationen im Kindes- und Jugendalter: Notfall Vergiftung

25.05.2012 | Medizin

Während die Zahl der Intoxikationen im Kleinkindalter sinkt, zeigt sich eine steigende Tendenz von Vergiftungen im Jugendalter – vor allem bei Jugendlichen, die aufgrund von psychiatrischen Erkrankungen Zugang zu Psychopharmaka haben. Jede Vergiftung muss – auch nur bei einem Verdacht – als klinischer Notfall betrachtet werden.
Von Irene Mlekusch

Vor allem beim Suizidversuch werden hohe Dosen an Psychopharmaka eingenommen, wobei Mischintoxikationen häufig sind und dem behandelnden Arzt die meisten Probleme bereiten“, sagt Gerald Wendelin vom Bereich der gemeinsamen Einrichtungen pädiatrische Intensivstation und Brandverletzteneinheit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Graz. „Da die Dosis bei Mischintoxikationen in suizidaler Absicht oft unklar ist und die Jugendlichen erst verspätet eine respiratorische Insuffizienz entwickeln können, ist eine mindestens 24-stündige Observanz an der Innsbrucker Kinderklinik obligat“, erklärt Univ. Prof. Thomas Müller von der Universitätsklinik für Pädiatrie I an der Medizinischen Universität Innsbruck. Des Weiteren müssen vor der Entlassung der psychopathologische Zustand und der soziale Hintergrund abgeklärt und beurteilt werden.

In den USA geht man von einer Vergiftungsinzidenz von vier Millionen Fällen pro Jahr aus; 300.000 davon werden jährlich im Krankenhaus begutachtet, nahezu 30.000 Betroffene sterben an den Folgen der Intoxikation. In Deutschland werden knapp 100.000 Fälle pro Jahr registriert. Da aber nicht alle Vergiftungen gemeldet werden, liegt die Fallzahl vermutlich höher. In Österreich kann man von etwa 1.100 Kindern unter 15 Jahren ausgehen, die wegen Vergiftungen stationär aufgenommen werden. „Glücklicherweise sind schwere Vergiftungen bei Kleinkindern selten, da sie meist nur geringe Mengen der entsprechenden Substanzen zu sich nehmen“, erklärt Wendelin.

Karl Hruby, Leiter der Vergiftungsinformationszentrale in Wien, legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Ingestionsunfall und tatsächlicher Vergiftung, wobei nur im Rahmen der Vergiftung durch höhere Toxizität und/oder Dosis bestimmte Symptome ausgelöst werden. Ein- bis Dreijährige sind im Vergleich zu    anderen Altersgruppen am häufigsten betroffen. In mehr als 90 Prozent der Fälle erfolgt die Ingestion oder Intoxikation zu Hause und man geht davon aus, dass die Unfälle zu zirka 60 Prozent vermeidbar sind. „Bei Ingestionen wird viel zu oft überreagiert“, berichtet Hruby. Denn in den überwiegenden Fällen könne Entwarnung gegeben werden und es seien keine weiteren Maßnahmen zu setzen. Führend in der Liste der für Kinder gefährlichen Substanzen sind Haushaltsprodukte wie Mittel zum Entkalken, Geschirrspülmittel, Waschmittel, Haushaltsreiniger, Düngemittel und Pestizide. Auch Kosmetika und Produkte für die Körperpflege stellen eine potentielle Gefahr dar, da deren Verpackungen oft mit Früchten verziert sind und die Inhalte gut duften. „Echte Vergiftungen sind bei Kindern extrem selten“, weiß Hruby und hebt die Intoxikation mit Medikamenten im Kleinkindalter hervor. Hier passieren die Unfälle entweder durch Verwechslung der Pharmaka oder deren Dosis durch den Erwachsenen oder auch beim Besuch in einem nicht-kindersicheren Haushalt. Verantwortungsvolle Eltern sollten einen verschließbaren Medikamentenschrank haben und niemals ein älteres Kind dazu veranlassen, einem jüngeren ein Medikament zu verabreichen.

Pflanzenvergiftungen

Intoxikationen mit Pflanzen und Pilzen sind im Kindesalter vergleichsweise selten, treten aber vor allem bei Pflanzenarten mit attraktiven Beeren auf. Als mögliche Beispiele für Pflanzenvergiftungen kommen der Goldregensamen, Tollkirsche, Eisenhut, Pflanzenteile der Engelstrompete oder des Stechapfels in Frage. „Auch im Haushalt kann es zu Verwechslungen kommen, zum Beispiel zwischen Bärlauch und den Blättern der Herbstzeitlose“, sagt Hruby und verweist darauf, dass derartige Unfälle eher selten Kinder betreffen. Im Herbst ist allerdings beim Pilzesammeln äußerste Vorsicht geboten, denn Kinder reagieren auf den gefährlichsten und giftigsten aller Pilze, den Knollenblätterpilz, besonders empfindlich.

Die Art der Vergiftung hängt sehr vom Alter und Geschlecht der Kinder ab. Die
Explorationsfreudigkeit der Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr wird von den Eltern oft unterschätzt. Die Neugierde ermöglicht es auch kleinen Kindern, immer wieder scheinbar unerreichbare Dinge zu erreichen. In dieser  Altersgruppe sind die Buben mehr gefährdet, sich zu vergiften als gleichaltrige Mädchen. Häufig passieren die Unfälle sogar unter Aufsicht, weil die Eltern kurz abgelenkt oder in einem Haushalt mit mehreren Kindern einfach überfordert sind. „Intoxikationen mit Entkalkern treten überwiegend dann auf, wenn nach dem Entkalken vergessen wird, das Entkalkerhaltige Wasser zu entleeren“, sagt Hruby. Der noch ausständige Vorgang gerät in Vergessenheit und mit dem im Gerät verbliebenen Wasser wird ein Getränk zubereitet. Verätzungen und Schmerzen im Bereich des Rachens, der Speiseröhre und des Magens sind möglich und können sehr schmerzhaft sein. Müller beurteilt Laugenverätzungen bei Kindern als besonders dramatisch. Hier gilt es, sofort Wasser oder Tee zu verabreichen und den Transport in die Klinik zu veranlassen; eventuell müssen auch großzügig Schmerzmittel verabreicht werden.

Bei den 13- bis 19-jährigen Vergiftungsopfern hingegen ist mehr als die Hälfte weiblich. Und sind die Intoxikationen im Kleinkindalter überwiegend akzidentiell, so erfolgt die Hälfte aller Vergiftungen bei Teenagern absichtlich. Wendelin dazu: „Vor allem Jugendliche, die aufgrund psychiatrischer Erkrankungen Zugang zu Psychopharmaka haben, neigen zur missbräuchlichen Verwendung der Medikamente in überhöhter Dosierung.“

Besteht der Verdacht auf eine Intoxikation, ist rasches Handeln angesagt, um schwerwiegende Komplikationen zu verhindern. Jede Vergiftung – auch wenn zunächst nur der Verdacht darauf besteht – muss als klinischer Notfall betrachtet werden. „Vor einem Anruf in der Vergiftungszentrale sollte man sich nie scheuen“, so Wendelin. Müller sieht zusätzlich zur fachlichen Unterstützung eine rechtliche Absicherung im Anruf in einer der Vergiftungszentralen. In jedem Fall müssen eine weitere Giftaufnahme verhindert und die Vitalfunktionen gesichert werden; dabei stellt für Wendelin eine mögliche Atemdepression das Poblem dar. „Sind die Vitalparameter auffällig, müssen diese in jedem Fall zuerst stabilisiert werden“, weiß Müller. Ist das Kind der klinisch-neurologischen Untersuchung nach symptomatisch, muss ein rascher Transport mit Notarztbegleitung in die nächstgelegene Klinik veranlasst werden. Gleiches gilt, wenn die Dosis beziehungsweise die Art des Giftes annehmen lassen müssen, dass das Kind während der Fahrt bewusstlos werden könnte.

Induziertes Erbrechen und Magenspülungen sind in den meisten Fällen obsolet, sind sich Hruby und Müller einig. „Meistens ist es für derartige Maßnahmen schon zu spät“, sagt Hruby und ergänzt, dass er sogar von einer Kontraindikation sprechen würde. „Eventuell kann Aktivkohle eingesetzt werden. Dies sollte aber nur nach Rücksprache mit der Giftberatung geschehen“, merkt Müller an. Bedacht werden muss, dass die Bindekapazität der Aktivkohle für einzelne Gifte unterschiedlich ist. Säuren, Laugen, Zyanid, Metalle, Glycol, Metaldehyd und Petroleum werden schlecht oder unzureichend adsorbiert. In der Dosierung sollte das Verhältnis Aktivkohle zu Gift größer als 10:1 sein. Hruby dazu: „Die Aktivkohle sollte in Form einer Suspension ohne Zwang verabreicht werden. Anderenfalls wird unter Umständen der Brechreiz gesteigert und es kann zu Komplikationen kommen.“ Die Experten sind einer Meinung, dass die Verabreichung der Aktivkohle eine Maßnahme ist, die nicht durch einen Laien durchgeführt werden sollte.

Das aufgenommene Gift und der klinische Verlauf können den Einsatz eines Antidots notwendig machen. „Die Verwendung eines Antidots muss individuell sorgfältig überlegt werden, da unter Umständen Folgeprobleme in Kauf genommen werden müssen“, gibt Wendelin zu bedenken. Müller wiederum vertritt die Ansicht, Antidota ausschließlich in der Klinik und nur auf Anweisung der Giftberatung einzusetzen. Als Antidota werden Flumazenil, Methylenblau, N-Acetylcystein, Naloxon, Physostigminsalicylat oder Biperiden verwendet. Bei einer Überdosierung von Paracetamol beispielsweise wird als Antidot N-Acetylcystein verabreicht.

Abgesehen von den gastrointestinalen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen und abdominellen Schmerzen zeigen sich im Rahmen von schweren Vergiftungen Arrhythmien, Hypo- oder Hypertension, Tachy- oder Bradykardie, Krampfanfälle, Hypo- oder Hyperthermie, Pupillenveränderungen und Veränderungen des Hautkolorits. Die überwiegende Anzahl an Intoxikationen äußert sich in zentralnervösen Symptomen und einer Aktivierung des sympathischen und parasympathischen Nervensystems. Der klinische Verlauf hängt stark von der Pharmakokinetik und der Quantität der Intoxikation ab. Somit stellt das klinische Erscheinungsbild einen dynamischen Prozess dar. Die Einzelsymptome sind häufig unspezifisch; bestimmte Substanzen führen aber zu charakteristischen Toxidromen.

Leitsymptome einer Opioid-Intoxikation sind Miosis, eine Senkung der Atemfrequenz auf zwei bis vier Atemzüge pro Minute sowie Hypotonie und Hypothermie. Das feucht-kalte Hautbild und die schlaffe Muskulatur geben bei stupurösen bis komatösen Patienten mit gelegentlichen Krampfanfällen deutliche Hinweise auf eine Vergiftung mit Opioiden. Bei Jugendlichen lassen sich unter Umständen auch Einstichstellen in der Ellenbeuge finden. Die stufenweise und systematische Sicherung der Vitalfunktionen steht in der    Behandlung an erster Stelle. Bei oraler Aufnahme kann Aktivkohle eingesetzt werden; bei respiratorischen Problemen beziehungsweise Koma kann die Verabreichung von Naloxon zur Stabilisierung führen. Krampfanfälle werden ebenfalls mit Naloxon behandelt; bleibt dieses wirkungslos, steht Diazepam als zweite Wahl zur Verfügung.

Das dyston-hyperkinetische Syndrom tritt im Zusammenhang mit Intoxikationen
des Dopamin-Antagonisten Metoclopramid (Paspertin®) bei Kindern auf. Auffällig sind hier vor allem Dystonien im Bereich der Halsmuskulatur, im Schulterarmbereich und der Schluckmuskulatur. Diese können allerdings durch dopaminerge Antiparkinsonmedikamente wie Biperiden effektiv behandelt werden.

Zusätzlich zu den Opiaten wurden Toxidrome für Sympathomimetika, Anticholinergika, Cholinergika, Sedativa und Narkotika sowie Halluzinogene definiert. Die Leitsymptome der einzelnen Toxidrome erleichtern zwar eine Zuordnung der Vergiftung; sie treten aber nicht unbedingt alle gleichzeitig oder gar vollzählig auf. Wesentlich ist es, das Intoxikationsbild als Ganzes zu sehen und auch an Mehrfachvergiftungen zu denken. „Die Hinweise von Begleitpersonen oder bei größeren Kindern von den Patienten selbst sind in vielen Fällen fehlerhaft und dürfen eine klinische Untersuchung nicht ersetzen“, weiß Müller. Falls möglich sollten die Eltern die Substanz mitbringen, da deren Zusammensetzung einen wesentlichen Einfluss auf die weitere Behandlung hat. „Bei Unklarheiten kann es zielführend sein, den Acetylsalicylsäure- und Paracetamol- Spiegel zu bestimmen, da diese beiden Substanzen öfters in hohen Dosen eingenommen werden und potentiell gefährlich sind“, empfiehlt Wendelin.

„Bei schweren Intoxikationen mit Lokalanästhetika oder anderen kardiotoxischen Pharmaka wurden bereits erfolgreiche Reanimationen mit Intralipidinfusionen nach kardialen Komplikationen durchgeführt“, macht Hruby einen Exkurs in die Zukunft. Die Toxizität der Substanzen kann durch die Verwendung von Lipiden verringert und somit lebensbedrohliche Situationen verkürzt werden. „Lipidrescue ist bei Kindern noch nicht im Einsatz, denn die Frage nach dem Funktionsmechanismus ist noch offen“, erläutert Hruby.

Tipp:

Vergiftungs-Informationszentrale:
Tel.: 01/406 43 43 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2012