Interview – Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger: Zukunftsfach Geriatrie

25.03.2012 | Medizin

Für einen höheren Stellenwert von geriatrischen Patienten in der Forschung und Lehre spricht sich Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger aus, die seit Kurzem den Lehrstuhl für Geriatrie an der Medizinischen Universität Graz innehat. Das Gespräch führte Elisabeth Gerstendorfer.


ÖÄZ: Warum braucht es eine eigene Professur für Geriatrie?

Roller-Wirnsberger: Bisher war der Fachbereich Geriatrie in Österreich im akademischen Umfeld nicht repräsentiert. Es gibt zwar seit 1. Juni 2011 die Möglichkeit, ein Additivfach für Geriatrie zu erwerben. Wir wollen in Graz Geriatrie aber zu einem der Ausbildungsschwerpunkte machen. Die Professur umfasst daher neben der Entwicklung von Leitlinien für multimorbide, funktionell beeinträchtigte Patienten, vor allem die Lehre, also Nachwuchsförderung, aber auch postgraduale Lehre. Langfristig soll das Curriculum für Geriatrie in das Humanmedizin-Curriculum integriert werden. Mein Auftrag ist auch, die geriatrische Forschung, die derzeit noch in den Kinderschuhen steckt, zu intensivieren.

Ist der nächste Schritt ein Facharzt für Geriatrie?

Der Facharzt für Geriatrie als Spezialfach ist eine Entwicklung, die in Europa durchwegs zu beobachten ist. Gäbe es diese Entwicklung gemäß den Europa-Konventionen, dann wäre der Facharzt für Geriatrie das, was man heute den Allgemeininternisten nennt, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den multimorbiden, alten Patienten. Es gibt wenig vergleichbare Erfahrungen aus Europa, weil die Gesundheitssysteme so unterschiedlich sind. Tatsache ist, dass im österreichischen Gesundheitssystem mit dem Facharzt für Allgemeinmedizin ohnehin ein starker Multiplayer etabliert wird. Erst dann wird sich die Frage stellen, ob wir einen Facharzt für Geriatrie brauchen oder nicht. Derzeit ist es kein Thema.

Laut Bevölkerungsprognosen erwartet uns eine immer älter werdende Gesellschaft. Wie wird das Gesundheitssystem das finanziell bewältigen?
Unser Gesundheitssystem ist derzeit ein reaktives System. Politisch gesehen muss der Auftrag eigentlich lauten: Prävention im früheren Erwachsenenalter ganz massiv zu propagieren. Wir haben ja heuer das Year of Active Ageing mit dem ziemlich hehren Ziel, die Gesundheitsphase um zwei Jahre pro Europäer zu verlängern. Dazu muss man die Eigenverantwortung der Menschen wieder anders stärken und den Leuten bewusst machen, dass sie natürlich für sich selbst eine gewisse Verantwortung tragen. Das betrifft sowohl die Primär- als auch die Sekundärprävention. Aber auch die Tertiärprävention, das heißt bei chronisch multimorbiden, alten Patienten muss das Ziel sein, sie möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung zu halten und ihnen dort eine möglichst gute Lebensqualität zu geben.

Welche Rolle spielt der Arzt in Bezug auf Active Ageing?
Der Arzt ist eine der Koordinationsfiguren, welche Fachrichtung auch immer. Ich glaube, dass der Arzt des Vertrauens eine zentrale Rolle hat. Er geht ja durch unterschiedliche Lebensphasen. In der Regel kennt ein guter Hausarzt Sie als Kind, als Erwachsenen und dann als älteren Patienten. Nichtsdestotrotz wird es uns nicht erspart bleiben, dass wir viel, viel engere Nahtstellen zwischen den Pflegestrukturen, sozialen Betreuungsstrukturen und medizinischen Strukturen knüpfen. Weg von der Schnittstelle hin zur Nahtstelle.

Besonders für ältere Menschen ist der Arzt oft eine Vertrauensperson, oft beträgt jedoch die Zeit, die für jeden einzelnen Patienten in der Ordination zur Verfügung steht, nur wenige Minuten.
Gerade in der Geriatrie ist die Arzt-Patienten-Beziehung sehr wichtig. Die Besuche beim Arzt oder ein Hausbesuch sind oft Fixpunkte für ältere Menschen, viele sind sehr einsam. Die ganze Curriculums-Weiterentwicklung in Graz basiert auf dem Grundsatz, dass wir unsere Absolventen fit machen wollen für diese Tätigkeiten im Bereich der Allgemeinmedizin und auch als Grundlage für eine Weiterentwicklung in den Facharztbereich. Über kurz oder lang wird sich das Gesundheitssystem diesem Wandel anpassen und für solche Leistungen Platz machen müssen. Das betrifft Leistungs- und Verrechnungsmöglichkeiten. Man wird dem Allgemeinmediziner einen Rahmen bieten müssen, indem er seine Fach-Expertise entsprechend einsetzen kann.

70 Prozent der über 60-Jährigen gehen bei gesundheitlichen Problemen zum Allgemeinmediziner, der oft sämtliche Fachrichtungen in Personalunion vertritt. Wie kann dem begegnet werden?
Allgemeinmediziner sollten im gradualen Bereich gut auf geriatrische Patienten vorbereitet werden. Postgradual wird das nur über Aus- und Weiterbildung und über das interdisziplinäre Arbeiten gehen. Der Allgemeinmediziner muss so viel wissen und so viel abdecken, dass er Fachexpertise, wenn er sie braucht und möchte, hinzuziehen können soll. Wir haben jetzt in Graz einen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin ausgeschrieben und ich hoffe auf extrem enge und gute Kooperationen. Ich bin jetzt schon sehr eng mit den Allgemeinmedizinern verknüpft, weil ich sie derzeit für den Angelpunkt im System halte. Es passiert sehr viel Gutes im niedergelassenen Bereich, ohne dass viel darüber gesprochen wird. Aber natürlich lernt niemand von uns je aus. Die Aufgabe der Universität ist, dieses Bildungsangebot zu geben und die Allgemeinmediziner in ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen, etwa mit Leitlinien, die auch auf den geriatrischen Patienten eingehen.

Sind geriatrische Leitlinien das Zukunftsthema der Geriatrie? Was werden die Forschungsschwerpunkte sein?

Das Problem ist, dass wir gewohnt sind, Leitlinien-gestützt zu arbeiten. Für geriatrische Patienten gibt es aber keine Leitlinien. Das wird die große Herausforderung für die Akutmedizin sein. Der Schwerpunkt wird nicht so sehr im Bereich klinischer Studien liegen, sondern in Richtung comparative effectiveness research, das heißt es geht um das Bilden von Clustern, um das Outcome gewisser Interventionen bei Patienten mit ähnlichen Merkmalen zu beobachten. Ein großer Auftrag ist auch der Bereich der Polypharmazie bei multimorbiden, alten Patienten sowie der kardiovaskuläre Bereich, die Onkologie des Alters und die Endokrinologie, weil all diese Erkrankungsformenkreise einen extremen Einfluss auf die Lebensqualität und auf die Möglichkeiten der Menschen haben, sich in ihrem Umfeld umzusetzen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2012