Interview – Univ. Prof. Michael Binder: Diagnose aus der Ferne?

10.02.2012 | Medizin

Unter gewissen Voraussetzungen ist Telemedizin sehr wohl sehr rasch in vielen einzelnen Indikationen einsetzbar. An eine Generalindikation glaubt Univ. Prof. Michael Binder, Dermatologe am Wiener AKH und am Exzellenzzentrum Telemedizin an der Medizinischen Universität tätig, nicht, wie er im Gespräch mit Elisabeth Gerstendorfer erklärt.

ÖÄZ: Welche telemedizinischen Anwendungen kommen in Österreich derzeit zum Einsatz?
Binder: Fast alle telemedizinischen Anwendungen in Österreich sind Second Opinion-Anwendungen. Beispielsweise werden pathologische Schnitte in Form von Second Opinion begutachtet. Regulär kommt Telemedizin hauptsächlich in der Teleradiologie und bei einzelnen Projekten in der Internen Medizin, wo es um die Versendung von EKGs in Notsituationen geht, zum Einsatz. Eine reine telemedizinische Anwendung, wo der Arzt ohne persönliches Gespräch eine Diagnose oder einen Therapieplan erstellt, kommt praktisch nicht vor. In anderen Ländern wie der Schweiz, den Niederlangen oder Dänemark gibt es das problemlos seit vielen Jahren schon.

Wäre es aus Ihrer Sicht für Österreich wünschenswert, dass Allgemeinmediziner telemedizinisch arbeiten?
Sehr interessant wäre das rasche Zur-Verfügung-Stellen fachspezifischer Zusatzexpertise für Allgemeinmediziner. Dabei gibt es aber verschiedene Probleme: Wenn man das in Echtzeit haben möchte, müsste auch der zusätzliche Experte in Echtzeit vorhanden sein. Das ist meist nicht möglich. Der Umweg wäre ein so genanntes Store-and-Forward Procedere. Das umfasst all das, was man zu einer Begutachtung weiterleiten kann wie Fotos oder auch eine Konstellation von Befunden. Da reduziert sich aber die Anwendungsbreite. Es ist nicht sinnvoll, wenn solche Daten erst nach einer Woche begutachtet werden. Man muss auch immer die Responsezeit festlegen. Store-and-Forward ist gut, wenn die Indikationen ganz klar eingeschränkt sind.

Wofür sind telemedizinische Anwendungen besonders geeignet? In welche Bereichen ist ihr Einsatz denkbar?
In Ländern mit sehr guter medizinischer Versorgung wie Österreich kann Telemedizin dort Sinn machen, wo Folgeuntersuchungen, die für Medizinsystem und Patient aufwändig sind, reduziert werden können. Das wird beispielsweise das Wundmanagement sein. Die Anzahl chronischer Wunden wird in der immer älter werdenden Bevölkerung zunehmen. Das ist im Prinzip eine klassisch ambulante Disziplin, wo sich ältere Personen den jeweiligen Besuch ersparen können, wenn es die Möglichkeit gäbe, mit telemedizinischen Methoden zumindest den Verlauf der Wundheilung zu beobachten. Wir haben geraden einige Studien in Evaluation, wo wir die Effizienz untersuchen und auch, ob das gefährlich ist oder nicht.

Was untersuchen Sie in Ihren telemedizinischen Projekten?
Wir untersuchen derzeit, ob es Sinn macht, auf Intensivstationen telemedizinische Expertise, besonders im dermatologischen Sinn, rasch oder rascher als sonst möglich zur Verfügung zu stellen. Im Prinzip wird der normale Untersuchungsgang beibehalten, der State of the Art für den Patienten, sekundär wird ein telemedizinischer Untersuchungsgang simuliert und dann beide Ergebnisse miteinander verglichen.

Wie hoch ist in etwa der Prozentsatz der Übereinstimmung der Standardintervention mit den telemedizinischen Anwendungen?
Das hängt natürlich immer ganz genau von der Fragestellung ab. Aber es gibt eine erstaunliche Übereinstimmung mit dem face-to-face Procedere, wobei natürlich gefragt werden muss, was dann für eine seriöse Applikation der Medizin notwendig ist. Und soweit sind wir derzeit noch nicht. Aber wir sind auf einem guten Weg, das zu erfahren.

Wie läuft die Begutachtung über Second Opinion derzeit in Österreich ab?
Das meiste ist Peer-to-Peer, das heißt die Kollegen kennen sich untereinander. Es gibt keine Relay-Stellen, also keine übergeordneten Versandstellen. Das liegt unter anderem auch an der Übernahme spezifischer Verantwortung. Natürlich kann man Bilder auch anonymisieren und verwenden, um das Training zu verbessern. Telemedizin ist in einer nicht unbeträchtlichen Form mit anonymen Datensätzen, seien es Bilder oder andere Daten, geeignet, das Training der Ärzte zu verbessern.

Kann Telemedizin den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient ersetzen?

In manchen Ländern gibt es Projekte, wo man sagt, Mobiltelefone könnten Dermatologen ersetzen. Die Vereinigten Staaten, die ja deutlich schlechter medizinisch versorgt sind als Österreich, haben eine große Menge an Daten gesammelt und wie es derzeit aussieht, kann das nicht ersetzt werden. Das Auge und der gesamte visuelle Untersuchungsgang beim Dermatologen sind schon notwendig, um eine Untersuchung seriös zu betreiben. Es ist ja oft nicht nur das, was der Patient an Symptomen präsentiert, sondern oft vieles andere wesentlich für die Diagnose – Hinweise, die ebenfalls aber visuell erhoben werden müssen. Meistens ist das, was Patienten zeigen, gar nicht so wichtig wie der Rest.

Gibt es in der Dermatologie telemedizinische Anwendungen für die Diagnose von Hautkrebs?
Nein. Hautkrebs ist noch immer eine Form der persönlichen Intervention zwischen Arzt und Patient, weil nicht nur die Veränderung Sorge macht, begutachtet wird, sondern immer der ganze Patient. Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, weil sich daraus auch das Risiko der Patienten ableitet. Die Hautkrebsdiagnostik ist keine punktuelle, sondern eine, die die gesamte Haut des Patienten betrifft. Das wird man in nächster Zeit durch telemedizinische Maßnahmen nicht ersetzen können. Was es durchaus gibt, ist, dass Ärzte sich durch digitale Dermatoskopie gegenseitig Bilder zuschicken, einerseits, um ihr Training zu verbessern, andererseits, um eine zweite Meinung zu erhalten.

Wie werden solche Second Opinion-Leistungen verrechnet?
In Österreich ist Verrechnungs-technisch und rechtlich noch nicht gelöst, wie wir mit telemedizinischen Anwendungen umgehen. Da muss etwas überlegt werden. Es gibt Länder, wo es solche Systeme gibt wie zum Beispiel in den Niederlanden, Dänemark, in Schweden, Großbritannien oder in den USA. Dort gibt es Studien, die zeigen, dass Patienten telemedizinische Services bevorzugen, weil sie rascher zum Arzt kommen. Natürlich wollen Patienten teilweise für telemedizinische Services weniger bezahlen, weil sie den Arzt nicht persönlich antreffen und es oft auch eine Geldfrage darstellt. Wesentlich ist, dass man Verantwortung übernimmt. Jede Second Opinion ist mit der Verantwortung der Person verbunden, die die Meinung abgegeben hat. Hierfür bedürfte es auch einer ausreichenden Haftpflichtversicherung.

Bei Second Opinion-Begutachtungen gelangt Datenmaterial des Patienten zu verschiedenen Stellen. Wie ist das im Hinblick auf den Datenschutz regelbar?
Ganz wesentlich bei der Vernetzung verschiedener Träger ist, dass die Sicherheit für den Patienten gegeben ist. Es muss sichergestellt sein, dass die übertragenen Daten für Unbeteiligte nicht lesbar sind, dass sie wirklich zu dem konkreten Patienten gehören und dass sie nicht von anderen wiederverwendet werden. Alles Dinge, die das Telematikgesetz regelt. Es geht also ganz wesentlich immer um Datenschutz, aber auch um das Handling, die Ergonomie solcher Systeme. Denn alle Systeme, die sehr sicher sind, sind oft auch umständlich zu bedienen. Man muss vorher wissenschaftlich prüfen, dann kann
man diese Methoden anwenden. Das heißt in der klinischen Forschung immer Zustimmung der Ethikkommission für jede dieser Anwendungen.

Glauben Sie, dass Telemedizin in näherer Zukunft ein wichtigeres Thema in Österreich wird?
Das wäre wünschenswert, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Ärzte annehmbar sind. Und gegeben, dass es eine gewisse Honorierungsmöglichkeit für diese Leistungen gibt. Dann kann ich mir durchaus vorstellen, dass Telemedizin sehr wohl sehr rasch in vielen einzelnen Indikationen einsetzbar ist. Ich glaube, es wird keine Generalindikation für Telemedizin geben. Aber in jedem einzelnen Fach wird es isolierte Indikationen geben, wo das sinnvoll ist – die gilt es zu identifizieren. Das bedarf eines relativ hohen Forschungsaufwandes, der selten aber für Telemedizin investiert wird.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2012