Arte­ri­elle Kom­pres­si­ons­syn­drome: Wenn nichts mehr geht

25.01.2012 | Medizin


Wenn nichts mehr gibt

Durch­blu­tungs­stö­run­gen kön­nen auch durch abnorme Gefäß­ver­läufe sowie phy­sio­lo­gi­sche und Trai­nings-bedingte Eng­stel­len der arte­ri­el­len Durch­blu­tung ver­ur­sacht wer­den. Die Beschwer­de­bil­der unter­schei­den sich je nach kom­pri­mier­ter Struk­tur und Region.
Von Irene Mle­kusch

Die peri­phere arte­ri­elle Ver­schluss­krank­heit ist im Bereich der obe­ren Extre­mi­tä­ten sel­ten“, erklärt Univ. Prof. Erich Minar von der Abtei­lung für Angio­lo­gie der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin II am AKH Wien. Bestehen im Bereich der Arme Par­äs­the­sien, ver­spü­ren die Pati­en­ten eine Schwä­che und Schwere der obe­ren Extre­mi­tät oder stel­len sich peri­phere Embo­lien in Form von Fin­ger­ne­kro­sen dar, so han­delt es sich mög­li­cher­weise um ein Tho­ra­cic-out­let-Syn­drom. Univ. Prof. Mari­anne Brod­mann von der Kli­ni­schen Abtei­lung für Angio­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz ergänzt: „Betrof­fen sind vor­wie­gend Per­so­nen im Alter zwi­schen 20 und 50 Jah­ren.“ Bei Pati­en­ten unter 40 Jah­ren gilt das Tho­ra­cic-out­let-Syn­drom als die häu­figste Ursa­che für einen aku­ten arte­ri­el­len Gefäßverschluss.

Die Anga­ben über die Prä­va­lenz sind unsi­cher, das Syn­drom ins­ge­samt kommt eher sel­ten vor. Ursäch­lich liegt meist ein phy­sio­lo­gisch beding­ter Eng­pass vor, sodass je nach topo­gra­phi­scher Loka­li­sa­tion zwi­schen dem kos­to­kla­vi­ku­lä­ren, dem Halsrippen‑, Scalenus‑, Hyperabduktions‑, Pec­to­ra­lis minor und Schul­ter-Arm-Syn­drom unter­schie­den wer­den kann. Die Prä­va­lenz einer Hals­rippe liegt bei 0,5 bis ein Pro­zent, wobei es nur bei fünf bis zehn Pro­zent der Betrof­fe­nen zu einer kli­ni­schen Sym­pto­ma­tik kommt. Außer­dem kön­nen Hal­tungs­schä­den der Wir­bel­säule, durch Kraft­sport oder Body­buil­ding ver­stärkte Mus­ku­la­tur, Trau­mata im Bereich der Hals­wir­bel­säule oder zusätz­li­che Bän­der zu einer Ver­stär­kung der Eng­stel­len bei­tra­gen.

Minar ver­weist dar­auf, dass beim Tho­ra­cic-out­let-Syn­drom meis­tens das Ner­ven­bün­del betrof­fen und somit das neu­ro­lo­gi­sche Beschwer­de­bild füh­rend ist. Kommt es bei Über­kopf-Arbei­ten aller­dings zu Schwä­che und Schmerz­zu­stän­den im Bereich der Arme, liegt mög­li­cher­weise eine Kom­pres­sion der A. sub­cla­via zu Grunde. Eine der­ar­tige vas­ku­läre Mani­fes­ta­tion kann sich auch in Form einer Belas­tung­s­i­schä­mie des Armes oder bei peri­phe­rer Embo­li­sa­tion auf­grund einer loka­len Schä­di­gung der A. sub­cla­via als akrale Nekrose dar­stel­len. Allein mit kli­ni­schen Ver­fah­ren ist eine sichere Dia­gno­se­stel­lung nicht mög­lich. „Das Schul­ter­gür­tel-Manö­ver ist bei jedem Zwei­ten patho­lo­gisch“, warnt Minar und emp­fiehlt ent­we­der ein­fa­che Faust­schluss-Übun­gen oder den Abduk­tion-Ele­va­tion-Außen-Rota­ti­ons­test (AER- bezie­hungs­weise Roos-Test) zur Provokation.

Kli­nik des Thoracic-outlet-Syndroms

  • Schmerz­lo­ka­li­sa­tion Hand­be­reich, sel­ten Schulter
  • loka­li­sierte sen­si­ble Defi­zite im Dermatomverlauf
  • Puls­de­fi­zit im Seitenvergleich
  • Tem­pe­ra­tur­dif­fe­renz und Abblas­sung der Hände im Seitenvergleich
  • Embo­lien im Fingerbereich
  • Schwel­lung des Armes
  • Kom­bi­na­tion ner­va­ler und vas­ku­lä­rer Symptome!

Quelle: Haf­ner, F./Univ. Kli­nik für Innere Medi­zin, Klin. Abt. f. Angio­lo­gie, Graz
Tab. 1

Ergän­zende appa­ra­tive Unter­su­chun­gen wie etwa eine arte­ri­elle Funk­ti­ons­dia­gnos­tik und eine Duplex­so­no­gra­phie der Arm­ar­te­rien in Ruhe und Pro­vo­ka­ti­ons­hal­tung kön­nen wei­tere Hin­weise lie­fern. Ein kon­ven­tio­nel­les Rönt­gen­bild von Tho­rax, Hals­wir­bel­säule und obe­rer Tho­ra­x­a­per­tur dient dem Aus­schluss einer Hals­rippe, wäh­rend eine neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chung mit Ner­ven­leit­ge­schwin­dig­keit des N. ulnaris eine Betei­li­gung der ner­va­len Struk­tu­ren fest­stel­len oder aus­schlie­ßen soll. Bei nicht ein­deu­ti­gen Befun­den kann es sinn­voll sein, ein CT oder MRT bezie­hungs­weise eine MR-Angio­gra­phie in Pro­vo­ka­ti­ons­hal­tung zu ver­an­las­sen, um dege­ne­ra­tive Ver­än­de­run­gen abzu­gren­zen oder einen Tumor aus­zu­schlie­ßen. Minar erin­nert auch an die Mög­lich­keit einer venö­sen Kom­pres­sion, die sich als Paget von Schroet­ter-Syn­drom mani­fes­tiert.

The­ra­peu­tisch zieht Minar die kon­ser­va­tive Behand­lung vor, solange keine Kom­pli­ka­tio­nen vor­lie­gen. Phy­si­ka­li­sche The­ra­pien wie ein Trai­ning der Schul­ter­gür­tel­mus­ku­la­tur, Ergo­the­ra­pie zur Besei­ti­gung von Hal­tungs­feh­lern und vor allem das Ver­mei­den von Über­kopf-Arbei­ten kön­nen zur Bes­se­rung der Sym­pto­ma­tik füh­ren. Spe­zi­ell bei Ple­xus-Irri­ta­tio­nen oder mor­pho­lo­gisch nach­weis­ba­ren Ver­än­de­run­gen der Gefäß­wand wie Steno­sen, Ver­schlüs­sen, Throm­ben, Aneu­rys­men oder Embo­li­sa­tio­nen kann ein ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen indi­ziert sein. Dies gilt ebenso für The­ra­pie-refrak­täre Beschwer­den oder Pati­en­ten mit über­durch­schnitt­li­chen Anfor­de­run­gen an die Gebrauchs­fä­hig­keit der betrof­fe­nen obe­ren Extremität.

Als wei­te­res Kom­pres­si­ons­syn­drom im Bereich der obe­ren Extre­mi­tä­ten ist das Lacer­tus fibro­sus-Syn­drom zu nen­nen. Plötz­li­che Abblas­sung und Schmer­zen im Bereich der Hand sind ebenso mög­lich wie peri­phere Embo­lien. „Betrof­fen sind vor allem junge mus­ku­läre Män­ner mit Schwer­ar­beit in der Ana­mnese bezie­hungs­weise for­cier­tem kör­per­li­chen Trai­ning“, merkt Brod­mann an.

„Bei jün­ge­ren Pati­en­ten mit Clau­di­ca­tio-Beschwer­den im Bereich der unte­ren Extre­mi­tä­ten stellt das pop­li­teale Ent­rap­ment die klas­si­sche Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose dar“, sagt Minar. Die Prä­va­lenz für Kom­pres­si­ons­syn­drome der A. pop­li­tea wird in der Lite­ra­tur – basie­rend auf Aut­op­sie­stu­dien – mit drei­ein­halt bis sie­ben Pro­zent ange­ge­ben. Die Kom­pres­si­ons­syn­drome die­ser Region kön­nen mus­ku­lär, vas­ku­lär, neu­ro­nal, syn­ovial oder ossär bedingt sein. Eine ent­spre­chende Sym­pto­ma­tik fin­det sich aber vor­wie­gend bei Sport­lern, ins­be­son­dere bei Leis­tungs­sport­lern und Mara­thon­läu­fern. Die ana­to­mi­schen Kor­re­late des pop­li­tealen Ent­rap­ments haben ihre Ursprung zum über­wie­gen­den Teil in der embryo­na­len Ent­wick­lung. Somit defi­niert sich das pop­li­teale Ent­rap­ment als inter­mit­tie­rende oder per­ma­nente, durch ange­bo­rene Ver­laufs­an­oma­lien der A. pop­li­tea oder der umge­ben­den Gas­tro­c­ne­mius-Mus­ku­la­tur bedingte Kom­pres­sion der Pop­li­te­al­ge­fäße. In sel­te­nen Fäl­len kön­nen auch der M. soleus oder der M. pop­li­teus zu Ein­engun­gen füh­ren.

Rele­vante Kompressions-Syndrome

Rele­vante Kompressions-Syndrome

Wel­che Patientengruppe(n) ist (sind) beson­ders prädestiniert?

Tho­ra­cic-out­let-Syn­drom

Alters­gruppe 20. bis 50. Lebensjahr

  • Kom­pres­sion ner­val drei­mal häu­fi­ger bei Frauen
  • Kom­pres­sion arte­ri­ell häu­fi­ger bei ath­le­tisch gebau­ten Män­nern
  • Beginn der Beschwer­den manch­mal nach Belas­tung der obe­ren Extre­mi­tä­ten (Heben von Las­ten, Trai­ning, Rucksack)

Kom­pres­sion A. brachialis

(Lacer­tus fibro­sus Syn­drom)

  • Junge mus­ku­läre Männer
  • Schwer­ar­beit in Ana­mnese beziehungsweise
  • nach for­cier­tem kör­per­li­chen Training

Kom­pres­sion A. pop­li­tea
(Ent­rap­ment Syndrom)

  • Jün­gere ath­le­ti­sche Män­ner fünf­mal häu­fi­ger als Frauen
  • Mitt­le­res Alter 35 Jahre
  • Circa 1,5 Pro­zent aller Ver­schlüsse der A. poplitea

Kom­pres­sion Trun­cus coeli­a­cus
(Dun­bar Syndrom)

  • Sehr sel­ten
  • Frauen etwas häu­fi­ger betrof­fen als Männer

Quelle: Haf­ner, F. Univ. Kli­nik für Innere Medi­zin, Klin. Abt. f. Angio­lo­gie, Graz
Tab. 2

Bila­te­rale Sym­pto­ma­tik

Nor­ma­ler­weise ist nur die Arte­rie betrof­fen; in einem von drei Fäl­len ist auch die V. pop­li­tea kom­pri­miert. In bis zu zwei Drit­tel der Fälle tritt das Syn­drom bila­te­ral auf. Dem­ge­gen­über steht das funk­tio­nelle Ent­rap­ment, das bei nor­ma­ler Ana­to­mie durch eine kräf­tig aus­ge­bil­dete Mus­ku­la­tur im Bereich des M. gas­tro­c­ne­mius, M. plant­a­ris oder M. semi­mem­bra­no­sus aus­ge­löst wird. Neben der Clau­di­ca­tio-Sym­pto­ma­tik kön­nen rezi­di­vie­rende Krämpfe der Waden­mus­ku­la­tur, Par­äs­the­sien und Dys­äs­the­sien, Käl­te­ge­fühl oder Abblas­sung der Haut auf­tre­ten. Die Sym­pto­ma­tik steht meist in Kor­re­la­tion mit sport­li­cher Betä­ti­gung und kann bei außer­ge­wöhn­li­cher Belas­tung zur kri­ti­schen Ischä­mie füh­ren. Bei Mit­be­tei­li­gung der Vene sind auch Bein­schwel­lun­gen und Throm­bo­sen mög­lich.

Eine exakte Ana­mne­se­er­he­bung sowie ein Puls­sta­tus in Ruhe und Pro­vo­ka­ti­ons­stel­lun­gen kön­nen erste Hin­weise lie­fern. Im Unter­schied zur peri­phe­ren arte­ri­el­len Ver­schluss­krank­heit ist der Knö­chel-Arm-Index im Ruhe­zu­stand nor­mal, dage­gen zeigt sich bei Plantar- und Dor­sal­fle­xion ein Abfall des Index um >0,5. Diese Pro­vo­ka­ti­ons­tests soll­ten zusätz­lich mit bild­ge­ben­den Ver­fah­ren wie Duplex­so­no­gra­phie oder MRT wie­der­holt wer­den. Eine Angio-MRT hat den Vor­teil, dass sowohl bestehende Gefäß­an­oma­lien als auch die Lage­be­zie­hung von Gefäß‑, Mus­ku­la­tur- und Ske­lett­sys­tem dar­ge­stellt wer­den kön­nen. Beim asym­pto­ma­ti­schen funk­tio­nel­len Ent­rap­ment sollte abge­war­tet wer­den. „Ein sym­pto­ma­ti­sches Ent­rap­ment sollte früh­zei­tig ope­riert wer­den, um irrever­si­ble Schä­den der Gefäß­wand zu ver­hin­dern“, weiß Minar. „In der Pra­xis zeigt sich lei­der immer wie­der, dass die durch­schnitt­li­che Latenz­zeit vom Beginn der Beschwer­den bis zur Dia­gno­se­stel­lung bis zu fünf Jahre beträgt“, so Brodmann.

Unspe­zi­fi­sche abdo­mi­nelle Schmer­zen kön­nen durch eine Kom­pres­sion des Trun­cus coeli­a­cus – auch als Dun­bar-Syn­drom bekannt – ver­ur­sacht wer­den. Die Kom­pres­sion erfolgt bei die­sem Syn­drom durch das Liga­men­tum arcua­tum mediale, wobei auch das Gan­glion celi­a­cum mit betrof­fen sein kann. Das Dun­bar-Syn­drom ist zwar sehr sel­ten, kann aber auf­grund der Schmer­zen zu erheb­li­chem Gewichts­ver­lust füh­ren. Durch die Kom­pres­sion der Arte­rie kann es zu einer Magen­läh­mung oder in wei­te­rer Folge zur Aus­bil­dung eines Aneu­rys­mas kom­men. Obwohl sich oft ein Steno­se­ge­räusch im Epi­gas­trium aus­kul­tie­ren lässt, füh­ren meist bild­ge­bende Ver­fah­ren wie Sono­gra­phie, CT oder MRT zur Dia­gnose. Die Dekom­pres­sion des Trun­cus coeli­a­cus ist die The­ra­pie der Wahl, muss aber indi­vi­du­ell gestellt wer­den.

Rele­vante Kom­pres­si­ons­syn­drome: Wann chir­ur­gisch vorgehen?

Rele­vante Kompressions-Syndrome

Wann ist die chir­ur­gi­sche The­ra­pie unumgänglich?

Tho­ra­cic-out­let-Syn­drom

Im Gegen­satz zu ner­va­ler Kom­pres­sion chir­ur­gi­sche Inter­ven­tion vor­wie­gend nur bei arte­ri­el­len und venö­sen Kompressionssyndromen:

  • Fort­be­stehen der ischä­mi­schen Sym­ptome unter kon­ser­va­ti­ver Therapie
  • Akute Ischä­mie bezie­hungs­weise Thrombose
  • Vor­lie­gen von Kom­pres­si­ons-beding­ten Gefäß­ver­än­de­run­gen (post­ste­no­ti­sche Dilatation)

Kom­pres­sion A. bra­chia­lis
(Lacer­tus fibro­sus Syndrom)

Bei sym­pto­ma­ti­schen Kom­pres­si­ons­syn­dro­men Dekom­pres­sion The­ra­pie der Wahl

Kom­pres­sion A. pop­li­tea
(Ent­rap­ment Syndrom)

  • Gefäß­ver­schluss
  • Kom­pres­si­ons­be­dingte Gefäß­ver­än­de­rung
    (post­ste­no­ti­sche Dilatation)

Kom­pres­sion Trun­cus coeli­a­cus
(Dun­bar-Syn­drom)

Chir­ur­gi­sche Dekom­pres­sion nur im Ein­zel­fall notwendig/​indiziert (kli­ni­sche Bedeu­tung des Dun­bar-Syn­droms strittig)

Quelle: Haf­ner, F. Univ. Kli­nik für Innere Medi­zin, Klin. Abt. f. Angio­lo­gie, Graz
Tab. 3

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.01.2012