Inter­view – Prof. Alex­an­der Gai­ger: Krebs entmystifizieren

25.11.2012 | Medizin

Vom Kon­zept der Pha­sen einer Krebs­er­kran­kung möchte Univ. Prof. Alex­an­der Gai­ger von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin I am Wie­ner AKH weg­kom­men. Eine beson­dere Auf­gabe des Haus­arz­tes sieht er darin, die Krebs­er­kran­kung zu ent­mys­ti­fi­zie­ren, wie er im Gespräch mit Doris Kreindl betont.

ÖÄZ: Das Fach­ge­biet der Psy­cho­on­ko­lo­gie führt in Öster­reich ein Schat­ten­da­sein. Wor­auf ist das Ihrer Mei­nung nach zurück­zu­füh­ren?
Gai­ger: Dafür gibt es meh­rere Gründe: Zunächst ist es bemer­kens­wert, dass in einem Land, in dem die Grün­der der Psy­cho­ana­lyse und Indi­vi­du­al­psy­cho­lo­gie Sig­mund Freud und Alfred Adler leb­ten – nur um zwei der vie­len her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten zu erwäh­nen –, die Psy­cho­the­ra­pie nach dem Zwei­ten Welt­krieg keine ver­gleich­bare Wir­kung ent­fal­tete. Ich führe das auf die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus zurück, als der Begriff Psy­che stig­ma­ti­siert wurde und Men­schen, die ‚anders‘ oder ‚psy­chisch auf­fäl­lig‘ waren, getö­tet oder ver­trie­ben und die ‚Kul­tur der Psy­cho­ana­lyse‘ zer­stört wurde. Diese Stig­ma­ti­sie­rung hatte zum Bei­spiel zur Folge, dass die Hos­piz­be­we­gung und Pal­lia­tiv­me­di­zin erst mit gro­ßer Ver­spä­tung in Öster­reich Fuß fass­ten. Ein zwei­ter Aspekt sind die hier­ar­chi­schen Struk­tu­ren in den meis­ten Gesund­heits­sys­te­men, die stark durch wirt­schaft­li­che und recht­li­che Rah­men­be­din­gun­gen gelei­tet sind. Die­sen Leit­li­nien ent­spre­chend wird das leicht Mess­bare, Quan­ti­fi­zier­bare, das sich ein­fa­cher in Abläu­fen und kon­trol­lier­ba­ren Richt­li­nien abbil­den lässt, bevor­zugt. Ein drit­ter Grund liegt in einer Beson­der­heit der Krebs­er­kran­kung: Wir wis­sen häu­fig nicht, wie sie ent­steht. Wäh­rend wir sonst das Krank­ma­chende auf einen ‚äuße­ren, frem­den‘ Ein­fluss zurück­füh­ren und ursäch­lich ein­grei­fen kön­nen, gelingt die­ses Kon­zept bei der Krebs­er­kran­kung nicht. Genau hier setzt der Mythos der Krebs­er­kran­kung an. Krebs als Folge von ‚schlech­ten Lebens­ge­wohn­hei­ten‘ ist ein fal­scher, lang über­hol­ter Mythos, der der Psy­cho­on­ko­lo­gie heute noch scha­det.

Was genau kann die Psy­cho­on­ko­lo­gie für die ein­zel­nen Pati­en­ten leis­ten?

Die Dia­gnose Krebs gleicht einem Sturz aus dem All­tag, nichts ist mehr so, wie es ein­mal war. Das Ver­trauen in den eige­nen Kör­per ist erschüt­tert. Es kommt zu einem Auto­no­mie­ver­lust, der durch unsere Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stile im Kran­ken­haus, die vor­wie­gend aus der Akut­me­di­zin kom­men und dort ihre Berech­ti­gung haben, ver­stärkt wird. Aller­dings haben wir bemerkt, dass ein län­ge­res, ein­ma­li­ges Gespräch die Pati­en­ten maß­los über­for­dert, mess­bar durch die hohen Non-Com­pli­ance-Raten in der Onko­lo­gie. Aktu­ell ste­hen wir vor der Her­aus­for­de­rung, Pro­zesse ein­zu­schleu­sen, die uns meh­rere, kür­zere Gesprä­che mit den Pati­en­ten ermög­li­chen, um ver­ständ­lich zu machen, was die Krank­heit für sie bedeu­tet. So gelingt es, die Lebens­qua­li­tät zu ver­bes­sern, das soziale Gewicht der Krank­heit abzu­fe­dern, Resi­li­enz und Adhä­renz zu fördern.

Eine Krebs­er­kran­kung ver­läuft in meh­re­ren Pha­sen. Inwie­weit gibt es für diese ein­zel­nen Pha­sen bereits The­ra­pie­kon­zepte?
Ich möchte vom Kon­zept der Pha­sen weg­kom­men. Ich arbeite seit 25 Jah­ren mit Men­schen, die von Krebs betrof­fe­nen sind. Ich konnte bis­her keine Pha­sen erken­nen. Mir sind immer nur Men­schen begeg­net. Das Kon­zept der Pha­sen war wich­tig, um Tabus zu bre­chen und um den wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs in Gang zu brin­gen. Die Schwie­rig­kei­ten, die sich zu Beginn der Krank­heit zei­gen, set­zen sich häu­fig im wei­te­ren Krank­heits­ver­lauf fort. The­men wie zum Bei­spiel eine schwie­rige sozio­öko­no­mi­sche Situa­tion oder eine vor­be­stehende psych­ia­tri­sche Erkran­kung zei­gen sich auch in der Reha­bi­li­ta­tion und in den soge­nann­ten kura­ti­ven, chro­ni­schen und pal­lia­ti­ven Pha­sen der Erkrankung.

Wor­aus ergibt sich die Not­wen­dig­keit einer onko­lo­gi­schen Reha­bi­li­ta­tion?
Die Reha­bi­li­ta­tion hat die Auf­gabe, die Betrof­fe­nen bei ihrem Weg zurück in den sozia­len und beruf­li­chen All­tag zu unter­stüt­zen. Vor­ran­gi­ges Ziel ist, durch gezielte phy­si­ka­lisch-medi­zi­ni­sche Trai­nings­pro­gramme über eine kör­per­li­che Akti­vie­rung einen posi­ti­ven Kreis­lauf in Gang zu set­zen. Die­ser führt gemein­sam mit beglei­ten­den psycho-onko­lo­gi­schen/­psy­cho­the­ra­peu­ti­schen und sozia­len Maß­nah­men zu einer Reduk­tion von Ängst­lich­keit, Depres­si­vi­tät, Distress und Fati­gue und damit zu einer Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät. Wei­tere Maß­nah­men wie Opti­mie­rung der Schmerz- und Poly­neu­ro­pa­thie-The­ra­pie und Ernäh­rungs­be­ra­tung, ver­stär­ken das Behand­lungs­kon­zept. Dadurch wird es den Betrof­fe­nen mög­lich, Ver­trauen in ihren eige­nen Kör­per zu fin­den und Gesund­heit und All­tag wie­der zu spüren.

Wo wer­den The­ra­pien ange­bo­ten und wel­che Vor­aus­set­zun­gen müs­sen erfüllt sein, damit Betrof­fene einen Reha­bi­li­ta­ti­ons­platz bekom­men?
Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­tren, die Ver­träge mit der PVA und wei­te­ren Ver­si­che­rungs­leis­tungs­trä­gern haben, gibt es meh­rere: in Trai­bach-Alt­ho­fen, Bad Tatz­manns­dorf, Bad Schal­ler­bach und Bad Sau­er­brunn. Im Rah­men von Pilot­pro­jek­ten wer­den sei­tens der Ver­si­che­rungs­trä­ger drei­wö­chige Reha­bi­li­ta­ti­ons­auf­ent­halte bezahlt. Vor­aus­ge­setzt wird eine Reha­bi­li­ta­ti­ons­fä­hig­keit, die am bes­ten mit dem behan­deln­den Arzt geklärt wer­den kann.

Was kann der Haus­arzt für Men­schen mit einer Krebs­er­kran­kung tun?

Eine beson­dere Auf­gabe besteht darin, die Krebs­er­kran­kung zu ent­mys­ti­fi­zie­ren. Wich­tig sind Klar­heit, Sach­lich­keit, detail­lierte Infor­ma­tio­nen über die nächs­ten Schritte sowie das The­ma­ti­sie­ren der Mythen der Krebs­er­kran­kung. Es ist sehr hilf­reich, Pati­en­ten dar­über auf­zu­klä­ren, dass sie nicht schuld an der Erkran­kung sind, dass Krebs nicht die Folge von schlech­ten Lebens­um­stän­den ist. Auch kön­nen Risi­ko­fak­to­ren für den wei­te­ren Krank­heits­ver­lauf, ins­be­son­dere sol­che, die Kom­or­bi­di­tä­ten, Compliance/​Adhärenz und Resi­li­enz betref­fen, abge­klärt wer­den: soziale Fak­to­ren wie Armut, Bil­dungs­man­gel, Arbeits­lo­sig­keit, psy­chi­sche Fak­to­ren wie vor­be­stehende psych­ia­tri­sche Erkran­kun­gen, Depres­si­vi­tät und kör­per­li­che Fak­to­ren wie Blut­ar­mut. Es gibt soziale Unter­stüt­zungs­pro­gramme für Men­schen mit­Krebs­er­kran­kun­gen, auf die der Haus­arzt im Rah­men eines Arzt-Pati­en­ten-Gesprä­ches hin­wei­sen kann. Der Haus­arzt kann zur Psy­cho­the­ra­pie zuwei­sen und auf die Mög­lich­keit der onko­lo­gi­schen Reha­bi­li­ta­tion hinweisen.

Wo sehen Sie im Bereich der Psy­cho­on­ko­lo­gie der­zeit den größ­ten Hand­lungs­be­darf?
Grund­sätz­lich benö­ti­gen wir in der Öffent­lich­keit eine bes­sere Wahr­neh­mung des The­mas. Psy­cho­on­ko­lo­gie ist eine hoch­spe­zia­li­sierte Sub­dis­zi­plin der Onko­lo­gie mit inter­na­tio­na­len, kla­ren Richt­li­nien und einem mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Zugang, bei dem Ärzte, Pfle­gende, Psy­cho­the­ra­peu­ten, Psy­cho­lo­gen und Phy­sio­the­ra­peu­ten zusam­men­ar­bei­ten. In Öster­reich ist Psy­cho­on­ko­lo­gie der­zeit kein geschütz­ter Begriff. Es kann sich heute – unab­hän­gig vom Berufs­stand – jeder Psy­cho­on­ko­loge nen­nen. In die­sem Bereich ist aber eine medi­zi­ni­sche und psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Kom­pe­tenz drin­gend not­wen­dig, um Men­schen, die sich in solch einer Situa­tion befin­den, kom­pe­tent zur Seite zu stehen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2012