Standpunkt – Vize-Präs. Artur Wechselberger: Es gilt die Unschuldsvermutung

10.09.2011 | Standpunkt

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Als wäre es oberste Bürgerpflicht, Unschuld zu vermuten, ziert diese Aufforderung nahezu jeden Bericht über Skandale, Malversationen, Korruption und Betrügereien. Was kein Kaiser mehr zum Schutz von Machthabern und Machthaberern dekretieren kann, trommeln die Medien in die Köpfe der Bürger. – Es gilt die Unschuldsvermutung! Zuletzt die Auftragsvergaben die Telekom betreffend.

Überall, wo es um große Aufträge geht, sind auch Bestrebungen zu erwarten, öffentliche Entscheidungsträger zu beeinflussen. Auch das Gesundheitssystem ist, wie jüngere und ältere Geschichten ums AKH Wien belegen, davor nicht gefeit. Bei den älteren ist es belegt, bei den jüngeren gilt sie natürlich – die Unschuldsvermutung.

Nur selten schert jemand aus dem Ritual, die Unschuld zu vermuten, aus. Dann mutiert etwa ein Patientenanwalt zum Alltagshelden und wirft der Ärztekammer vor, Patienten-gefährdend das E-Medikationsprojekt mit fadenscheinigen Argumenten zu blockieren, wo doch das AKH in Wien auch nicht wegen vergaberechtlicher Probleme geschlossen werde. Eine gewisse Nonchalance dem Recht gegenüber, mit der er sich nahezu zeitgleich über die „Schweinereien“ der Zweiklassenmedizin in den Krankenhäusern echauffiert und Ärztekammer und Ärzte, ohne Unschuldsvermutung, als Verursacher brandmarkt.

Dass das Krankenanstaltengesetz Krankenzimmer der Sonderklasse vorsieht und damit den als „Schweinerei“ bezeichneten Zuständen eine gesetzliche Grundlage verleiht, verschweigt der Landesjurist geflissentlich. Schließlich will man doch weder den öffentlichen Dienstgeber, der letztlich an der Sonderklasse mitverdient, noch das ELGA-Projekt E-Medikation anpatzen. Und dieses schon gar nicht. Schließlich brächte der vergaberechtliche Fauxpas des Hauptverbandes einen Fleck auf die blütenweiße West des ganzen ELGA-Projektes, die sich dieses, zumindest im rechtlichen Bereich, trotz eines langen Weges noch erhalten hat.

Mittlerweile befasst sich schon der dritte Gesundheitsminister mit dem als elektronische, lebensbegleitende Gesundheitsakte von der damaligen Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat initiierten Projekt, dem 2006 ein internationales Elektronikunternehmen in einer Studie die Machbarkeit bestätigte. Den ebenfalls attestierten qualitativen und ökonomischen Mehrwert konnte eine zwei Jahre später erstellte Kosten-Nutzenanalyse nicht so klar bestätigen. Und beide sind heute noch nicht restlos geklärt – der Nutzen wie auch die Kosten. Dennoch gilt natürlich die Unschuldsvermutung.

ELGA war heuer auch bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen ein Thema. Aber nur eines von vielen. Liest sich doch die Teilnehmerliste wie das Who is Who der Österreichischen Gesundheits- und Gesundheitsinteressenpolitik. Landluft-gedoptes Lobbying war angesagt. Der Einfachheit halber trat die pharmazeutische Industrie gleich als Mitveranstalter auf. Und nachdem der Gesetzgeber das Anfütterungsverbot 2009 vorausschauend aus dem „Antikorruptionsgesetz“ herausgenommen hatte, kamen wohl auch die leiblichen Genüsse im Dorf der Denker nicht zu kurz. – Aber auch hier gilt die Unschuldsvermutung.

Artur Wechselberger
Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2011