Standpunkt – Präs. Walter Dorner: Ärztlicher Befund zu Datenklau und Patientenrecht

10.10.2011 | Standpunkt

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Der österreichische Philosoph Günther Anders hat in seinem aufsehenerregenden Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“ in den späten 1950er Jahren bereits drei Thesen formuliert, die immer mehr zur erschreckenden Wahrheit werden. Anders meint: „Die drei Hauptthesen: Dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen sind. Dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können. Und dass wir glauben, das, was wir können, auch dürfen.“

Anders ist der Ansicht, dass die technischen Errungenschaften des Menschen von ihm letztendlich nicht mehr beherrscht werden können. Er meinte damals vor allem die Kernspaltung. Und er sprach über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten technischen Revolution.

Anders machte sich damals noch keine Vorstellungen von der Digitalisierung. Vom gläsernen Menschen und der Macht der Daten. Aber er hat eindringlich davor gewarnt.

In den vergangenen Wochen haben wir deutlich – und weltweit – gesehen, was die vermeintliche Datensicherheit ist: ein Versprechen, das nicht haltbar ist. Es gibt keine geschützten Daten, wenn sie einmal auf unterschiedlichen Servern liegen und im Netz hin und her transportiert werden. Jedes Verschlüsselungsprogramm kann gehackt, jede Firewall überwunden werden.

Das meinte Anders mit der Antiquiertheit des Menschen. In seinem Erfindungsreichtum schafft der Mensch Dinge, die er letztendlich nicht beherrschen kann. Wie im Zauberlehrling entgleitet ihm vieles. Der technische Fortschritt richtet sich gegen ihn selbst.

Wenn es um Menschenleben geht, um Krankheit und zu Recht tabuisierte Intimitäten und um Individualität, hat Sicherheit Vorrang vor Ökonomie, technischer Machbarkeit und rationalen Scheinvorteilen.

Ich bin nicht gegen digitale Datenspeicherung, nicht gegen die E-Card, nicht gegen bildgebende elektronische Verfahren. Ich bin aber vehement gegen eine Verzerrung der Realitäten: Es ist schlichtweg falsch, dass mit ELGA oder E-Medikation Datensicherheit verbunden ist. Dem widerspricht die Hackertätigkeit tagtäglich. Wenn Menschen, die vor Datenlecks warnen, als Verhinderer und antiquierte Menschen abgestempelt werden, bin ich gerne antiquiert.

Es muss auch Widerstand gegen die Beruhigungs- und Verharmlosungsstrategien geben. Der Widerstand des Arztes ist dessen Einsatz für die Würde des Menschen. Diese ist allemal wichtiger als die Globalisierung des Datenaustausches und Wissenstransfer; noch dazu, wenn geschütztes Wissen plötzlich inszenatorisch und – nahezu voyeuristisch – im Web und dann in den anderen Medien veröffentlicht wird. Damit kann man Menschen zerstören.

Daher mein Appell: Solange Sicherheit nicht gewährleistet ist, darf es keine digitale Freiheit geben. Übrigens: Mit ähnlichen Argumenten wurde der Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie begründet. Und es war gut so.


Walter Dorner

Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2011