Standpunkt – Dr. Agnes M. Mühlgassner: Vom Geben und Nehmen

15.12.2011 | Standpunkt

(c) Foto Weinwurm

Es gehört zu den unangenehmsten Situationen im Leben, Freude über ein Geschenk zeigen zu müssen, bei dessen Anblick einem nicht wirklich danach ist. Aber auch sonst – nicht nur rund um Weihnachten – könnte man auf vieles, womit man im Leben konfrontiert wird, mit Freuden verzichten.

Zweifellos sind durch die technischen Errungenschaften der modernen Medizin in der Diagnose und Therapie unglaubliche Spitzenleistungen möglich geworden. Allerdings hat der technische Fortschritt auch in einem anderen Bereich der Medizin seinen vermeintlichen Siegeszug angetreten: Was zunächst als willkommene Gabe angenommen wurde, das Auffinden von Befunden und auch die Kommunikation zwischen Ärzten, Labors etc. vereinfachen sollte, stellte sich rasch als Danaer-Geschenk heraus: Die EDV, die ja in erster Linie zur Unterstützung dienen und Zeitersparnis bringen sollte, eroberte schleichend ihre Spitzenposition in den ärztlichen Ordinationen und Spitälern. Die Erleichterung durch die EDV ist in vielen Bereichen sicher eingetreten; allerdings ist sie mittlerweile zum größten Zeitfresser im medizinischen Alltag geworden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Turnusärzte verbringen mittlerweile 75 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation und Administration.

Natürlich bringt diese Entwicklung auch Vorteile: Seit einigen Jahren werden nun auch die Daten der Vorsorgeuntersuchung neu elektronisch erfasst (aber bis heute weiß niemand, was mit diesen Daten wirklich geschieht). Oder aber im Spitalsbereich wird am Terminal ganz registriert, welcher Operateur wie lange für eine Operation benötigt – als ob die Schnelligkeit ein Maß dafür sein könnte, wie (wenig) anspruchsvoll ein Eingriff ist.

Im Gegenzug hat man den Ärzten das Wichtigste genommen: die Zeit. Zeit für’s Reden, Zeit für’s Zuhören, oft auch einmal ein bisschen Zeit, nicht nur auf die Laborbefunde zu schauen, sondern sich auf den ganzen Menschen einzulassen, ihn in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und sich das eine oder andere Mal auch auf die Intuition zu verlassen…

Gegeben hat man also den Ärzten scheinbar viel mit den Möglichkeiten der modernen EDV, die sicherlich in vielen Bereichen auch ihre Berechtigung hat. Aber der Preis, den die Ärztinnen und Ärzte dafür bezahlen – sprich: was man ihnen dafür genommen hat – ist hoch, zu hoch. Denn man hat ihnen alles genommen: nämlich die Zeit, Arzt zu sein.

Ein Blick zurück – anlässlich meiner zehnjährigen Tätigkeit als Chefredakteurin – zeigt, dass viele der brennenden Punkte von damals auch heute noch aktuell sind: die Stärkung des Hausarztes etwa oder die Arbeitsbedingungen der Spitalsärzte, das Thema Hausapotheken, die Ausbildung, Qualitätssicherung – um nur einige zu nennen.

Zu Weihnachten besteht die Hoffnung, dass zumindest einige Wünsche in Erfüllung gehen. Ich wünsche mir, dass uns einige dieser Themen in zehn Jahren nicht mehr beschäftigen werden – weil akzeptable Lösungen gefunden werden konnten.


Dr. Agnes M. Mühlgassner

Chefredakteurin

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2011