Versorgungsforschung: Alter Wein in neuen Schläuchen?

10.03.2011 | Politik

Die Disziplin der Versorgungsforschung ist neu – ihre Anliegen keineswegs. Die Chance: positive Veränderungen im Gesundheitswesen auch politisch voranzutreiben.
Von Ruth Mayrhofer

Mit Versorgungsforschung beschäftigt man sich in Deutschland seit rund sechs Jahren. In Österreich ist dieses Feld so neu, dass es bis dato noch keine einzige heimische Website dazu gibt. Grundsätzlich werden in der Versorgungsforschung die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und Versorgungsprozessen im Gesundheitswesen unter Alltagsbedingungen untersucht und die Bedingungen des Versorgungssystems analysiert. Die Versorgungsforschung ist somit die wissenschaftliche Basis, um Veränderungen im Gesundheitswesen und deren Auswirkungen zu beschreiben und zu untersuchen. Ergebnisse der Versorgungsforschung sollten Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen sein. Dazu bedarf es der Transparenz und des Wissenschaftstransfers zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik.*

Von „unreflektiert“ zu „zielgerichtet“

Einer der ganz wenigen, die sich hierzulande mit Versorgungsforschung als Disziplin auseinandersetzen, ist der Sozialmediziner, Gesundheitsökonom und Public Health-Experte Univ. Prof. Bernhard Schwarz. „Die meisten Themen, die Versorgungsforschung betreffen, sind Public Health-Themen, die keineswegs neu sind“, erklärt der Experte. Der Patient steht dabei im Mittelpunkt des Geschehens. Die Frage, wie etwa Gesundheitsleistungen beim Patienten ankommen sowie die Bewertung von medizinischen Methoden, die Definition eines medizinischen Leistungsangebots, die Angebotsplanung und makroökonomische Betrachtungen und Analysen werden in Österreich seit Langem von verschiedenen Stellen – vorrangig dabei beteiligt ist das ÖBIG – bearbeitet. Also bloß alter Wein in neuen Schläuchen? – Nicht unbedingt: Zusammengefasst unter dem neuen Titel Versorgungsforschung könnten alle bisherigen und kommenden dahingehenden Anstrengungen kanalisiert werden und für den bestmöglichen Einsatz vorrangig öffentlicher Mittel für Gesundheitsleistungen sorgen. „Das wurde bisher in Österreich vernachlässigt“, merkt Schwarz kritisch an, „bisher wurde eher unreflektiert in Strukturen investiert.“

Von den Ergebnissen von Versorgungsforschung sind alle Akteure im Gesundheitswesen betroffen: Ärzte, Apotheken, Pharma- und Medizintechnik-Industrie, die Pflege- und MTD-Berufe. „Alle werden sich auf dieses Thema draufsetzen“, ist Schwarz überzeugt, „denn es geht dabei natürlich auch um Partikularinteressen.“

Obwohl in Österreich die Gesundheitsausgaben nicht übermäßig ansteigen – im Zeitraum von 1990 bis 2008 betrug die Steigerungsrate 2,2 Prozent -, muss man in einem Umfeld von beschränkten Ressourcen vermehrt auf eine vernünftige Leistungssteuerung achten. Ein Beispiel dafür sind die in letzter Zeit viel diskutierten Pläne für „Krankenhaus-Schließungen“ vulgo „Effizienzerhöhungen in Krankenhäusern“, die auf Basis der Analyse der Notwendigkeiten von wohnortnaher beziehungsweise wohnortferner Versorgung in manchen Fällen Sinn machen würden. Ebenso sei die rigide Trennung des stationären und ambulanten Sektors zu überdenken; die Schaffung der Ärzte-GmbHs sieht der Experte als einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung. Aber: „Sinnvolle Politik muss auch sinnvoll verkauft werden“, so Bernhard Schwarz.

Auch dem in Österreich drohenden Ärztemangel könnte mithilfe von Versorgungsforschung – und manch politisch vielleicht unpopulären Mitteln – vorgebeugt werden. Aus Sicht des Sozialmediziners Schwarz wäre damit ein klares Aufzeigen der Defizite und daraus resultierend eine Vermehrung von Ausbildungsplätzen ein erster notwendiger Schritt, der aber genauso eine Aufhebung der Zugangsbeschränkungen an den medizinischen Universitäten nach sich ziehen sollte. „Viele heimische Ärzte gehen mangels Arbeitsmöglichkeiten ins Ausland. Das ist nicht gut. Und wenn Österreich auf den quasi ‚Einkauf‘ ausländischer Ärzte angewiesen ist, wird die Sache auch nicht gerade billiger.“

Die Chance der Versorgungsforschung in Österreich sieht Schwarz in der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie sie im Public Health-Bereich bereits heute gang und gäbe ist. „Die Experten sind in Österreich vorhanden. Durch die Versorgungsforschung könnten Public Health-Themen neuen Schwung und frischen Wind bekommen, und das ist auch gut für das Themen-Marketing.“ Aber alle Anstrengungen, so der Fachmann, „werden nichts nützen, wenn sich in der Politik nichts bewegt. Da wird sich viel ändern müssen.“

* Quelle Definition: Clearingstelle Versorgungsforschung NRD/Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung; www.versorgungsforschung.nrw.de

Interview – Vize-Präs. Artur Wechselberger

„Weg vom parteipolitischen Kalkül!“

Artur Wechselberger, ÖÄK-Vizepräsident und Präsident der Tiroler Ärztekammer, fordert im Gespräch mit Ruth Mayrhofer, dass auch in Österreich mit wissenschaftlichen Methoden an die Gestaltung des Gesundheitswesens herangegangen wird.

ÖÄZ: Wie beurteilen Sie die Vorstöße in Österreich in Richtung Versorgungsforschung?

Wechselberger: Es ist an der Zeit, dass auch in Österreich, wie in anderen europäischen Ländern schon geschehen, mit wissenschaftlichen Methoden an die Gestaltung des Gesundheitswesens herangegangen wird. Die Deutsche Bundesärztekammer hat zum Beispiel in diesem Bereich eine namhafte Summe zur Anschub-Finanzierung bereitgestellt. Damit unterstützt sie Bestrebungen, die im Rahmen wissenschaftlicher Analysen gewonnene Erkenntnisse und Daten für eine Optimierung der Versorgungssituation nutzbar zu machen.

Welche (politischen) Hemmschuhe könnte Versorgungsforschung als eigene Disziplin aus Ihrer Sicht hierzulande erleben?

Als informierter Beobachter hat man oft den Eindruck, dass viele politische Aussagen und Entscheidungen zur medizinischen Versorgung in unserem Land mehr aus parteipolitischem Kalkül als auf Basis objektiver Untersuchungen fallen. Diese Mentalität dilettierender Entscheidungsträger könnte ein Hemmschuh für eine auf Wissenschaftlichkeit und Fakten basierende Versorgungsforschung sein. Denn die Versorgungsforschung bietet sich als Instrument der Politikerberatung an und lebt davon, dass sie auch angenommen wird.

Stichwort Partikularinteressen: Wie sieht der Standpunkt der ÖÄK zum Thema Versorgungsforschung aus?
Aus meiner Sicht kann eine unabhängige Versorgungsforschung, die transparent und mit entsprechender methodischer Qualität arbeitet, auch im Interesse der Ärzteschaft sein. Schließlich hat sie das Potential, politisch beeinflusste und tendenziöse Entscheidungen aufzuzeigen und hoffentlich auch im Sinne einer Verbesserung der Rahmenbedingungen der gesundheitlichen Versorgung zu verhindern.

Wie kann sich die Ärzteschaft besser für ihre Interessen in die Versorgungsforschung einbringen?

Wir sollten uns an der Deutschen Bundesärztekammer durchaus ein Beispiel nehmen, deren Initiative beobachten und an die österreichischen Verhältnisse adaptieren. Als wissenschaftliche geprägter Berufsstand sollen wir uns nicht scheuen, auch für Österreichs permanent laufende Gesundheitssystemdebatte harte wissenschaftliche Fakten zu fordern.

Welche Schritte sehen Sie dabei als Standesvertreter als prioritär an?
Es liegt an uns, dieses derzeit brach liegende Forschungsgebiet zu thematisieren und zu besetzen, um wissenschaftliche Versorgungsforschung und deren Erkenntnisse als Instrument zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Einzelnen aber auch der Bevölkerung voranzutreiben. Vielleicht gelingt es uns dabei auch, der zunehmend demotivierenden politischen Fremdbestimmung mit Hilfe einer uns vertrauten Methodik zum Wohle der österreichischen Bevölkerung entgegenzutreten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2011