USA Pflicht zur Krankenversicherung: Vorbild Massachusetts

10.10.2011 | Politik

Im US-amerikanischen Bundesstaat Massachusetts ist seit fünf Jahren Wirklichkeit, was ab 2014 für die gesamte USA gelten soll: eine Pflicht zur Krankenversicherung. Die Initiative gilt als Vorbild der historischen Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama.
Von Nora Schmitt-Sausen

Die Ähnlichkeiten der beiden Reformen sind unverkennbar: Alle Bewohner von Massachusetts sind seit 2006 dazu verpflichtet, sich zu versichern. Unternehmen müssen für den Versicherungsschutz ihrer Angestellten sorgen. Wer sich weigert, dem drohen Strafen. Um die Gesundheitsversorgung für diejenigen zu gewährleisten, deren Mittel knapp sind, hat Massachusetts Medicaid, das Versicherungsprogramm für sozial Schwache, ausgeweitet. Ein staatlich regulierter Versicherungsmarkt sorgt dafür, dass auch Geringverdiener Policen zu leistbaren Konditionen erwerben können – wenn nötig mit staatlicher Hilfe. All diese Schritte sieht auch Obamas Gesetz vor.

Die Reform in Massachusetts ist ein Erfolg: 98 Prozent der 6,5 Millionen Einwohner sind laut Regierungsangaben krankenversichert; bei den Kindern sind es nahezu 100 Prozent. In keinem anderen US-Staat ist die Quote besser. Mehr als 400.000 Menschen hat das Gesetz in die Krankenversicherung gebracht, und gleichzeitig sind die staatlichen Ausgaben überschaubar geblieben. Trotz des ausgeweiteten Versicherungsschutzes bringt der Ostküstenstaat mit etwa 350 Millionen Dollar jährlich nur gut ein Prozent des Jahresbudgets mehr auf als vor der Reform. Vor allem die staatlich gelenkten Managed Care-Programme von verschiedenen Versicherungsanbietern hielten die Kosten niedrig, heißt es.

Doch es gibt auch nicht endende Kritik: Speziell Kleinunternehmer beklagen, dass ihre Versicherungsprämien stärker ansteigen als dies vor der Reform der Fall gewesen ist. Und trotz Versicherung suchen viele Einwohner weiterhin die Notaufnahmen der Krankenhäuser anstatt die Arztpraxis oder andere Versorgungsstellen auf. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind in den USA per Gesetz dazu verpflichtet, Patienten unabhängig von ihrem Versicherungsschutz zu behandeln. Jedoch war gerade die Entlastung der Krankenhäuser einer der Kernpunkte für die Reform in Massachusetts.

Die Bewohner stehen fünf Jahre nach Inkrafttreten hinter der Reform. 63 Prozent unterstützen das Gesetz, ermittelten jüngst die in Massachusetts ansässige Harvard Public School of Health und die renommierte Zeitung „Boston
Globe“. Das sind zehn Prozent mehr als vor zwei Jahren. Beschwerden über Qualität und Kosten der eigenen Gesundheitsversorgung seien in Massachusetts selten. Auch machen die Einwohner die Reform nicht für die stattlichen Gesundheitskosten, die in Massachusetts notorisch hoch sind, verantwortlich. 72 Prozent sagen, hierfür seien „andere Faktoren“ verantwortlich. Allerdings: Die Pflicht zur Versicherung sehen die Bürger kritischer als noch vor zwei Jahren. Dennoch steht mit 51 Prozent weiterhin eine knappe Mehrheit der Befragten zu dem Versicherungszwang.

Besonders an dieser Pflicht zur Versicherung macht sich die landesweite Kritik der Republikaner an der Gesundheitsreform von Obama fest. Ab 2014 soll dieser Reformpunkt greifen. Die Konservativen glauben, dass Obamas Reform mit dem Zwang zur Versicherung gegen die Verfassung verstößt. Sie torpedieren die Jahrhundertreform weiter vehement. Landesweit laufen vor US-Gerichten Klagen gegen eben jenen Passus.

Ziel: Gesundheitskosten kontrollieren

Während Obama noch darum ringt, den universellen Versicherungsschutz bundesweit durchzusetzen, ist Massachusetts bereits einen Schritt weiter. In diesem Jahr haben sich die Verantwortlichen gezielt an das zweite große Problem im US-amerikanischen Gesundheitswesen herangewagt: die Gesundheitskosten. Per Gesetz will der demokratische Gouverneur Deval Patrick den bislang unkontrollierten Anstieg der Versicherungsprämien regulieren, die Kostenabwicklung zwischen Leistungsanbietern und Versicherern überwachen und alternative Versorgungswege zu den bisherigen kostspieligen Einzelleistungs-Vergütungen vorantreiben. Die Pläne sind ehrgeizig: Bis zum Jahr 2015 sollen Organisationen mit integrierten Versorgungsleistungen die Hauptanbieter für Gesundheitsleistungen in Massachusetts sein. „Mit 98 Prozent versicherten Einwohnern haben wir gezeigt, dass Regierung, Patienten, Versicherer und Anbieter zusammenarbeiten können, um die Ziele der Gesundheitsreform zu erreichen“, sagte Patrick bei der Vorstellung der neuen Pläne Ende Februar. „Unsere nächste große Leistung wird die Kostenkontrolle sein.“

Mitt Romney, der Reformmacher

Kein geringerer als der Republikaner Mitt Romney hatte im Frühsommer 2006 die Pflicht zur Krankenversicherung in Massachusetts durchgesetzt. Der heute 64-Jährige war zwischen 2002 und 2007 Gouverneur des Ostküstenstaates. Sein ‚Ja’ zum universellen Versicherungsschutz bringt den Konservativen heute in Erklärungsnöte, denn Romney ist ein möglicher Herausforderer von Präsident Obama bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Herbst. Dass sein Gesetzesvorstoß Vorbild für Obamas Gesundheitsreform gewesen ist, ist Romneys Achillesferse im bereits laufenden Vor-Wahlkampf. Denn will Romney tatsächlich gegen Obama antreten, muss er sich zunächst gegen Kandidaten aus der eigenen Partei durchsetzen. Seine politische Vergangenheit ist für Romney deshalb ein schwieriger Balanceakt. Einerseits muss er zu seiner politischen Legende stehen, gleichzeitig aber Obama und dessen Gesundheitsreform attackieren. Denn die überwiegende Mehrheit der republikanischen Wählerbasis lehnt diese strikt ab.

Romney ist bemüht, Abgrenzung zwischen seiner Reform und der von Obama zu finden: „Unser Gesetz war eine staatliche Lösung für ein staatliches Problem“, argumentiert er. Eine landesweite Pflicht zur Krankenversicherung, wie Obamas Reform es vorsieht, lehnt er ab. Sollte Romney zum Präsidenten gewählt werden, will er Obamas Reform zurücknehmen. Zu dem, was er in Massachusetts gemacht hat, steht er allerdings. Das Gesetz beinhalte zwar sicherlich Passagen, die er heute anders geregelt hätte, aber „bin ich alles in allem dankbar für die Tatsache, dass wir das Beste für die Bevölkerung erreicht haben? Absolut.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2011