Porträt: Obamas mächtiger Gegenspieler

10.03.2011 | Politik

Die Pflicht zur Krankenversicherung bezeichnet er als „puren Sozialismus“, das US-amerikanische Gesundheitswesen als „das beste der Welt“. Der Republikaner John A. Boehner möchte der Gesundheitsreform den Garaus machen. Als neuer Sprecher des US-amerikanischen Repräsentantenhauses hat sein Wort Gewicht.
Von Nora Schmitt-Sausen

John A. Boehner hat den Ruf, eine Heulsuse zu sein. Als er in der Nacht der Kongresswahl vor die Kameras tritt, dauert es nicht lange, bis dem 60-Jährigen die Tränen das Gesicht herunter laufen. Seine Huldigung des „American Dream“, das Anpreisen von „wirtschaftlicher Freiheit und der Freiheit der Person“ bringt der ehemalige Unternehmer nur noch schluchzend heraus. Boehner ist seit jeher nah am Wasser gebaut. Der Republikaner weinte im Parlament, während er das Rettungspaket für die Wall Street verteidigte; er weinte bei einer öffentlichen Rede, in der er die Demokraten beschuldigte, die Truppen im Irak zu vernachlässigen. Und er weint jedes Jahr beim Fundraising-Event für mittellose katholische Schulen. Comedians gibt der mächtigste Republikaner des Landes damit viel Futter für Klamauk. Doch seit Jahresbeginn ist er „Mr. Speaker“, der Sprecher des US-amerikanischen Repräsentantenhauses – und damit neben Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden der drittwichtigste Mann in den USA.

Im Washingtoner Establishment ist Boehner eine bekannte Größe. Seine politischen Gegner karikieren ihn gerne als einen von Lobbyisten umgebenen Old-School-Konservativen mit großem Faible für teure Steaks, guten Wein und Golfplätze. Er sei die Reinkarnation von alldem, was der Durchschnitts-Amerikaner aus tiefster Seele ablehne, heißt es. Das Gegenteil von dem viel beschworenen neuen Wind, der in Washington in 2011 wehen soll. Und tatsächlich: Zu Boehners engsten Freunden zählen Banker und Versicherer. Aus seinen Verbindungen zur Wirtschaftlobby macht der Konservative keinen Hehl. Steuern lehnt er genauso ab wie Regulierungen. Das größte Laster des dauergebräunten Republikaners mit der sonorig-dunklen Stimme sind seine Camel Lights 100. Kaum eine Stunde kann Boehner in einer Anhörung sitzen, ohne aufzustehen und eine Zigarette zu rauchen. Das strikte Rauchverbot des US-amerikanischen Kapitols gilt in seinem Büro nicht. Boehners Liebe zum Tabak reicht weit: Einst verteilte er im Parlament Schecks der Tabakindustrie an seine Kollegen.

Ein Selfmade-Mann

Doch Boehner ist auch das: Ein Selfmademan aus dem US-amerikanischen Bundesstaat Ohio mit Wurzeln in der unteren amerikanischen Mittelklasse. Als zweitältestes von zwölf Kindern hat er früh gelernt, sich zu behaupten und gleichzeitig Bedürfnisse anderer zu achten. Als Aushilfe im Lokal seines Vaters habe er gelernt, mit jedem „Idioten“, der in die Bar kam, fertig zu werden, wie er es selbst beschreibt. Später machte Boehner Karriere. Er führte ein Unternehmen für Plastikwaren. Der Republikaner ist ein Mann klarer Ansagen, nicht aber der großen Worte. Er bezieht offensiv Position, doch ist bei weitem nicht so radikal und unnachgiebig wie die Vertreter der Tea Party-Bewegung in seiner Partei. Boehner ist pragmatisch und gesprächsbereit wenn nötig, konfrontativ wenn möglich. Den Kampf für seine Sache führt der Republikaner leidenschaftlich.

Trotz zwei Jahrzehnten im Kongress und in Führungspositionen innerhalb der republikanischen Partei ist Boehners Gesicht in der Öffentlichkeit noch weitestgehend unbekannt. Das wird sich schnell ändern. Als neuer Sprecher im Repräsentantenhaus bestimmt Boehner in den kommenden zwei Jahren, welche Themen die 435 Abgeordneten diskutieren – und welche nicht auf die Agenda kommen. Seine erste Amtshandlung war gleich ein Clou. Er ließ das Repräsentantenhaus über die Aufhebung von Obamas Gesundheitsreform abstimmen. Mit einem klaren Ergebnis: Eine breite Mehrheit ist dafür, ObamaCare zu widerrufen.

Die breite Zustimmung der republikanisch dominierten Kammer kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Boehners erster Akt als Haus-Sprecher rein symbolischen Charakter hatte. In der zweiten Kammer des Kongresses, dem demokratisch dominierten Senat, steht die Reform nicht zur Diskussion. Die Republikaner halten jedoch an der „Aufheben und Ersetzen“-Strategie fest. Boehner wird andere Wege finden, um die Reform im Repräsentantenhaus weiter zu torpedieren. „Wir haben versprochen, ObamaCare zurückzunehmen. Dieses Versprechen werden wir halten“, sagt er knapp.

„You can´t“

Boehner lehnt die Gesundheitsreform seit jeher vehement ab. Sein leidenschaftlicher Ausruf gegen Obamas Prestigeobjekt („Hell no, you can’t“) ist in Washington berüchtigt. Er ist ein Klassiker auf dem Videoportal YouTube. Boehner steht an vorderster Front derjenigen, die in der Reform ein „Monstrum“, einen „Jobkiller“, „Sozialismus“ und „ein dunkles Kapitel“ der US-amerikanischen Geschichte sehen. Vor allem die angeblichen Mehrbelastungen für kleinere und mittelständische Unternehmen durch die angekündigte Versicherungspflicht gehen Boehner gegen den Strich.

Neben Boehners Weinerlichkeit sorgt seine merkwürdige Dauerbräune für Gesprächsstoff in Washington. Selbst Präsident Obama machte sich über den Teint des Republikaners schon öffentlich lustig als er sagte, Boehner sei auch ein Mann von Farbe. Eine blasse Figur wird „Mr. Speaker“ in Washington in den kommenden zwei Jahren sicherlich nicht abgeben.

Weitere Reformteile seit Jänner 2011 in Kraft

Ungeachtet der anhaltenden Debatte um die Reform geht die Implementierung des Gesetzes weiter. Den Versicherern wird seit Januar vorgeschrieben, mindestens 80 Prozent der Einnahmen durch Versicherungsprämien in die Gesundheitsversorgung der Patienten zu investieren. Senioren im staatlichen Medicare-Programm bekommen unter bestimmten Voraussetzungen verschreibungspflichtige Medikamente 50 Prozent günstiger. Ihnen soll dadurch geholfen werden, das so genannte „doughnut hole“ zu überstehen. Diese kontroverse Regelung beinhaltet, dass Medikamentenkosten nur bis zu einer gewissen Grenze abgedeckt werden. In 2010 lag diese Summe bei 2.830 Dollar jährlich. Danach mussten die Kranken sämtliche Kosten selbst tragen bis sie 3.610 Dollar aus eigener Tasche beglichen hatten. Erst danach griff das Staatsprogramm wieder, die andere Seite des „doughnut hole“ war erreicht. Außerdem bekommen Senioren ab sofort bessere Vorsorgeangebote wie etwa Mammographie oder Ernährungsberatung und können einmal im Jahr auf Wunsch zum Gesundheitscheck. Mit dem „Center for Medicare and Medicaid Innovation“ gibt es nun eine Agentur, die das Ziel verfolgt, die Versorgung der Patienten zu verbessern und gleichzeitig den rapiden Anstieg der Gesundheitskosten zu drosseln.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2011