US-Gesundheitswesen: Seniorenversicherung im Umbruch

25.10.2011 | Politik

Amerikas staatliche Krankenversicherung für Rentner steht vor einer ungewissen Zukunft: Hohe Gesundheitskosten, der demographische Wandel und die leere Staatskasse der USA bringen das Programm in Nöte. Die Privatisierungspläne der Republikaner sorgen für Unruhe.
Von Nora Schmitt-Sausen

Amerikas Rentner sind in Aufruhr. Der Grund: Die Republikaner wollen Medicare, die staatliche Krankenversicherung für Senioren und Behinderte, privatisieren. Schon seit April liegen die Pläne auf dem Tisch. Die Konservativen tun dies – so ihre Begründung – um die Gesundheitsversorgung der älteren Generation zu sichern. Die hoch verschuldeten USA seien auf lange Sicht nicht mehr in der Lage, das Medicare-Programm aufrechtzuerhalten. Es verschlingt gut 450 Milliarden US-Dollar jährlich, Tendenz steigend, und ist einer der größten Brocken im Haushalt der USA. Dass Medicare der Reform bedarf, bestreiten auch die Demokraten nicht. Eine radikale Systemveränderung lehnen sie jedoch ab. Sie wollen stattdessen Kosten einsparen.

Medicare ist seit 1965 in Kraft. Der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson hatte es auf den Weg gebracht. Jeder Senior ab 65 Jahren hat Anspruch auf die staatliche Krankenversicherung, sofern er oder sein Ehepartner mindestens zehn Jahre in das System eingezahlt haben. Der Staat behält 1,45 Prozent des Bruttolohns ein, den gleichen Prozentsatz führt der Arbeitgeber in den Medicare-Topf ab. Ergänzend zahlen die Senioren ab dem Eintritt ins Rentenalter Beiträge (siehe Kasten). Die Verwaltung des Programms liegt beim Staat; er begleicht die Rechnungen der Senioren. 47,5 Millionen Amerikaner sind durch Medicare versichert. Versuche, die ausufernden Kosten des Programms zu mindern, sind in den vergangenen Jahren kläglich gescheitert.

Nun haben die Republikaner einen radikalen Vorstoß gewagt. Sie wollen Medicare in den Markt der Privatversicherer überführen. Nach ihren Vorstellungen soll der Staat die Gesundheitsversorgung der Rentner nur noch subventionieren, anstatt wie bisher unbegrenzt tragen. So wollen die Republikaner den Staat aus der Verantwortung nehmen und den Senioren mehr Eigenverantwortung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen geben. Das und der Wettbewerb der Versicherer um die neuen Patienten solle die Kosten im Gesundheitswesen drücken und gleichzeitig den Haushalt entlasten. Ab 2022 wollen die Republikaner ihre Pläne in die Tat umsetzen – vorausgesetzt es ist politisch möglich.

Danach sieht es im Moment nicht aus. Präsident Barack Obama hat den Plänen eine deutliche Absage erteilt: „Wir dürfen nicht das Bild von Amerika opfern, an das wir glauben. Und so lange ich Präsident bin, werden wir das auch nicht tun.“ Der Staat werde sich weiter um die Gesundheitsversorgung der Senioren kümmern und seine Verantwortung nicht abwälzen. Obama stellte sich den ausufernden Kosten bei Medicare bereits im Zuge seiner Gesundheitsreform. Er will das Programm umstrukturieren und die Ausgaben strenger überwachen. Dazu gehört, „verschwenderische Subventionen“ zu streichen, Fehlzahlungen aufzudecken und die staatlichen Zuschüsse für Krankenhäuser zu reduzieren. So sollen in den kommenden Jahren Milliarden eingespart werden.

Eine weitere Reform ist unumgänglich, da die US-amerikanische Bevölkerung rapide altert. Allein im Jahr 2011 werden 2,8 Millionen Bürger der Baby-Boomer-Generation das Eintrittsalter für Medicare erreicht haben. Auch die in den USA traditionell hohen Gesundheitskosten sind weiter außer Kontrolle. Dazu macht die anhaltende Wirtschaftsschwäche dem Programm zu schaffen. Die Steuereinnahmen waren im vergangenen Jahr wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der niedrigeren Löhne geringer als erwartet. Bereits im Jahr 2024 droht dem Krankenhausprogramm von Medicare die Insolvenz, so der jüngst vorgelegte Programmreport. Das ist fünf Jahre früher, als noch im vergangenen Jahr prognostiziert. Für die Konservativen kommen diese Zahlen wie gerufen: „Die größte Bedrohung für Medicare ist der Status quo“, kommentierte der Republikaner John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses. „Wenn wir nichts unternehmen, wird Medicare nicht in der Lage sein, die versprochenen Leistungen für Amerikas Senioren zu zahlen.“

Doch die Opposition gegen die Pläne der Republikaner ist groß. Nicht nur Demokraten und Sozialverbände empören sich. Auch in der Bevölkerung ist der Vorstoß der Republikaner nicht gut angekommen. Sie fürchtet sich vor zusätzlichen Kosten. Die Konservativen hatten kalkuliert, dass die Amerikaner aus Angst vor der hohen Verschuldung der USA und der drohenden Insolvenz von Medicare bereit seien für Änderungen. Bislang geht diese Rechnung nicht auf. Schon gibt es erste Anzeichen, dass die Republikaner ihre Pläne zurückziehen oder zumindest aufweichen.

Doch einmal aus der Schublade hervorgeholt, liegen die Privatisierungspläne nun auf dem Tisch. Zur Freude der Demokraten. Im Herbst 2012 wird in den USA gewählt, der Wahlkampf hat bereits begonnen. Die Medicare-Reformpläne könnten eine Steilvorlage für die Demokraten sein. Auch in den USA sind Senioren eine starke Wählergruppe.

Details zu Medicare

Medicare ist ein komplexes System mit verschiedenen Versicherungsvarianten und variierenden Zuzahlungsverpflichtungen. Das traditionelle Programm hat zwei Säulen: eine Krankenhausversicherung und die Versicherung für ambulante Dienste.

Im Fall eines Krankenhausaufenthalts deckt Medicare in der Regel fast ausschließlich die Kosten. Allerdings zahlen die Senioren bei stationären Aufenthalten bis zu 60 Tagen eine einmalige Selbstbeteiligung von 1.132 Dollar. Bei längeren Aufenthalten sind Tagessätze zu zahlen: 283 Dollar bei Aufenthalten zwischen 61 und 90 Tagen, 566 Dollar ab dem 91. Tag. Ab dem 150. Krankenhaustag trägt Medicare die Kosten nicht mehr. Für die ambulante Versorgung zahlen die meisten Senioren eine monatliche Prämie von derzeit 96 Dollar. Dazu kommen teils erhebliche Selbstbeteiligungen.

Kosten für Medikamente erstattet Medicare erst seit wenigen Jahren; allerdings muss sich der Patient dafür zusätzlich versichern. Einige Leistungen – wie die zahnmedizinische Versorgung – sind von Medicare ausgenommen. Privatversicherer fangen die Versorgungslücken des Staatsprogramms auf.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2011