Ein Bundesgericht hat entschieden, dass die US-amerikanische Gesundheitsreform gegen die amerikanische Verfassung verstößt. Nun droht um Obamas Prestigeprojekt ein langes juristisches Gerangel. Letztendlich landet das Gesetz wohl vor dem Supreme Court, dem obersten Tribunal der USA.
Von Nora Schmitt-Sausen
Wenn es um die Zukunft der amerikanischen Gesundheitsreform geht, kann die Mathematik ziemlich einfach sein. Drei Gerichte haben bislang über Klagen gegen das umstrittene Gesetz entschieden. Zwei Richter stützen Obamas Regelwerk, einer urteilt, ein zentraler Bestandteil der Refrom verstoße gegen die Verfassung. Die beiden Richter, die sich hinter die Reform stellen, wurden vom ehemaligen demokratischen Präsidenten Bill Clinton ernannt; der opportunierende Richter von George W. Bush, seines Zeichens Republikaner. Damit setzen sich auf juristischer Ebene die parteipolitischen Grabenkämpfe um die Gesundheitsreform fort, die in den vergangenen zwei Jahren die politische Landschaft der USA bestimmt haben.
Kern des juristischen Konflikts ist die Bestimmung, dass alle US-amerikanischen Bürger ab 2014 zum Abschluss einer Krankenversicherung zwangsverpflichtet werden sollen, andernfalls droht eine empfindliche Strafe. Mit diesem Passus habe der Kongress den von der amerikanischen Verfassung vorgegebenen legislativen Rahmen überschritten, urteilte Richter Henry E. Hudson im Dezember des vergangenen Jahres in Richmond/Virginia. Der Staat habe kein Recht dazu, Bürger zum Kauf einer Dienstleistung zu verpflichten. Zwei andere Richter hatten die Sache in weiteren Verhandlungen in Virginia und Michigan erst wenige Wochen zuvor anders bewertet: Sie sahen in den Bestimmungen in der Gesundheitsreform keine Überschreitung der Kompetenzen des Kongresses und schmetterten die Klagen ab.
Die Obama-Regierung stützt sich in der Verteidigung der Gesundheitsreform auf den so genannten „Commerce Clause“ in der US-amerikanischen Verfassung. Danach darf die Regierung „Aktivitäten, die den zwischenstaatlichen Handel im erheblichen Maße berühren“ regulieren. Strittig ist, ob die Ablehnung eines Krankenschutzes lediglich eine individuelle Entscheidung ist, die jenseits der Einflusssphäre des Staates liegt, oder ob diese Entscheidung eine aktive Handlung von wirtschaftlicher Dimension ist.
Nicht-Versichern = aktive Entscheidung
Die Juristen des Justizministeriums argumentieren, dass sich kein Bürger dem Gesundheitsmarkt entziehen könne, da er nicht wisse, wann er etwa einen Unfall habe und deshalb behandelt werden müsse. Deshalb sei ein Nicht-Versichern eine aktive Entscheidung, nämlich die zu Gunsten des Bezahlens anfallender Gesundheitskosten aus der eigenen Tasche. So entschied auch Richter Norman K. Moon aus Lynchburg/Virginia: Sich nicht zu versichern, sei „alles andere als eine Inaktivität“, sondern eine wirtschaftliche Entscheidung, Kosten für Gesundheitsdienste später in Eigenleistung statt im Vorhinein durch eine Versicherung zu bezahlen. In der Summe führten solch individuelle Entscheidungen dazu, dass unbeglichene Gesundheitskosten auf Staat, Krankenhäuser und Privatversicherte abgewälzt würden, und deshalb reguliert werden könnten.
Richter Hudson folgte dieser Sicht im bislang jüngsten Entscheid um die Reform nicht. Mit einer solch breiten Definition des Begriffes der wirtschaftlichen Aktivität bekäme der Kongress eine nahezu „grenzenlose“ Autorität und könne den Amerikanern auch vorschreiben, „ein Auto zu kaufen, ein Fitnessstudio zu besuchen oder Spargel zu essen“. Es fehle hier an einer logischen Limitierung. Den Stopp der weiteren Ausführung von ObamaCare, die in Stufen erfolgt, ordnete der Richter jedoch nicht an. Diese Entscheidung wolle er den höheren Gerichten überlassen.
Die nun gesprochenen Urteile bilden erst den Auftakt zum juristischen Gezerre um Obamas Prestigeprojekt. Landesweit laufen mehr als 20 Verfahren gegen das Gesetz, die fast ausnahmslos von republikanischen Gouverneuren oder Anwälten losgetreten worden sind. Je nach Erfahrung, Philosophie und parteipolitischem Hintergrund der Richter sind kontroverse Entscheidungen zu erwarten. Fest steht schon jetzt: Diejenigen, die die juristischen Vorstöße gegen die Reform zunächst nur müde belächelt haben, müssen ihre Meinung revidieren. Der juristische Kampf um die Gesundheitsreform wird wohl durch die Instanzen gehen. Amerikanische Rechtsexperten erwarten, dass letztendlich erst der Supreme Court darüber entscheiden wird, ob das Gesetz in der verabschiedeten Form vom März 2010 vollständig in Kraft treten kann. Es wird ein knapper Ausgang prognostiziert. Mit einer endgültigen Entscheidung zur Zukunft der Reform wird erst in zwei Jahren gerechnet, wenn sich der Termin für die Pflicht zur Versicherung nähert.
Kippt der Passus über die Versicherungspflicht, wankt die gesamte Reform, denn diese Passage ist von elementarer Bedeutung für das Gesetzespaket. Ab 2014 soll dadurch der Zugang zum Versicherungsschutz für etwa 30 Millionen Amerikaner gesichert werden. Die Krankenversicherer argumentieren, dass sie die zusätzlichen Versicherungsleistungen nur dann tragen können, wenn auch die gesunden US-Bürger dazu verpflichtet werden, sich zu versichern, und nicht nur diejenigen in 2014 zu ihnen stoßen, die zu Risikogruppen gehören oder bereits erkrankt sind.
Reformgegner wollen sich von Washington abkapseln |
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2011